Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
unter mir drang.
Dass ich dies alles so bewusst wahrnahm, war ungewöhnlich für mich, und ich genoss es. Irgendwann hatte ich Lust auf eine Zigarette, aber ich wollte es diesmal nicht wie immer machen, sondern bedächtig. Ich angelte mir das Päckchen vom Schreibtisch und hielt es ein paar Sekunden in der Hand. Dann klopfte ich mit zwei Fingern auf die Unterseite und fischte die Zigarette auf der andern Seite mit den Lippen heraus. Ich dachte an die unzähligen Male, in denen ich diesen Handlungsablauf völlig mechanisch ausgeführt hatte. Dabei fiel mir auf, dass ich auf einmal ins Leere starren konnte, ohne gleich von Schwindel ergriffen zu werden. Ohne den Blick abwenden zu müssen. Ich bekam eine Art Gänsehaut am ganzen Körper und fühlte mich traurig und euphorisch zugleich. Das Bild eines Dampfers, der den Hafen für eine lange Reise verlässt, entstand. Ich zündete die Zigarette mit einem Streichholz an und spürte, wie sich der Rauch in meinen Lungen ausbreitete, während eine zweite Kette von Erinnerungen aufstieg. Ich könnte bis ins kleinste Detail erzählen, was ich bei jedem einzelnen Zug von dieser Zigarette dachte.
Es waren insgesamt elf Züge. Als ich die Kippe in dem Glasgefäß ausdrückte, das mir als Aschenbecher diente, war mir klar, dass ich nach dem Prozess noch etwas zu erledigen hatte.
Etwas sehr Wichtiges.
11
A m Freitagvormittag hatte ich einen Termin bei Gericht, danach ging ich zu Abdou ins Gefängnis. Wir mussten uns auf seine Vernehmung vorbereiten, die am darauf folgenden Montag stattfinden sollte.
Der Wärter führte mich ins Besucherzimmer und schloss mit einem – für mein Empfinden boshaften – Lächeln die Tür. Die Hitze war drückend, schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich zog die Jacke aus, lockerte den Krawattenknoten, knöpfte meinen Hemdkragen auf. Eigentlich , dachte ich, bist du ja kein Gefangener; wo steht geschrieben, dass du bei geschlossener Tür in diesem Kabuff ausharren und nach Luft schnappen musst? Also öffnete ich die Tür. Der Beamte im Korridor sah mich feindselig an und schien drauf und dran, etwas zu sagen, tat es dann aber doch nicht.
Ich lehnte mich an den Türrahmen, in die Mitte zwischen Tür und Korridor, und zog eine Zigarette heraus. Aber ich zündete sie nicht an. Selbst dafür war es zu heiß.
Ich spürte, wie mein schweißgetränktes Hemd an meinem Rücken klebte, und ein Gedanke tauchte direkt aus den Tiefen meiner Kindheit auf.
Ein bisschen Puder, das wäre jetzt das Richtige , dachte ich.
Als Kinder wurden wir, wenn wir schwitzten, eingepudert. Wer dagegen protestierte, weil er meinte, zu groß dafür zu sein, bekam zu hören, dass er sonst eine Rippenfellentzündung bekäme. Wollte er wissen, was das sei, sagte man ihm etwas ganz Schlimmes – in einem Ton, bei dem einem die Lust, nachzuhaken, verging.
Während mir dies durch den Kopf ging, fiel mir auf, dass das schon das zweite Mal in zwei Tagen war, dass mir Dinge aus meiner Kindheit in den Sinn kamen. Das war merkwürdig, denn ich dachte normalerweise nie an meine Kindheit. Ich erinnerte mich an so gut wie gar nichts. Wenn mich einmal jemand – fast immer Frauen – fragte, wie meine Kindheit gewesen sei, antwortete ich irgendetwas, was mir gerade in den Sinn kam. Manchmal sagte ich, ich sei ein glückliches, andere Male, ich sei ein trauriges Kind gewesen. Manchmal, wenn ich Eindruck schinden wollte, sagte ich auch, ich sei ein seltsames Kind gewesen. Ich fand, das verlieh mir eine geheimnisvolle Aura. So besondere Leute – wie ich – sind natürlich seltsame Kinder gewesen, war damit gemeint.
In Wirklichkeit erinnerte ich mich kaum an meine Kindheit und hatte auch keine Lust, darüber nachzudenken. Wenn ich mich bisweilen konzentrierte, um mich doch an das ein oder andere zu erinnern, wurde ich traurig. Daraufhin ließ ich es dann wieder sein. Ich mochte die Traurigkeit nicht, ich ging ihr aus dem Weg, soweit das möglich war.
Jetzt betrachtete ich verwundert diese Erinnerungsfetzen, die weiß Gott woher auftauchten. In das Staunen und die Neugier, die sie hervorriefen, mischte sich ein Hauch von Wehmut, aber nichts von der Trauer, die mich früher immer hatte wegschauen lassen.
Während ich über diese neuerliche Veränderung nachdachte, überkam mich eine Art Frösteln, das sich vom Rücken bis zu den Haarwurzeln im Nacken und in die Arme ausbreitete. Obwohl es heiß war.
Jetzt zündete ich die Zigarette an.
Irgendwann sah ich Abdou am Ende des
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