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Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Titel: Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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zeigte, dass ich ihn empfindlich getroffen hatte.
    Er ließ Renna seinen Bericht wiederholen, er ließ ihn klarstellen, dass seine Erinnerungen vor einem Jahr frisch gewesen seien und dass er den Angeklagten seither nicht mehr gesehen habe, weder von Angesicht zu Angesicht, noch auf einem Foto. Er fügte ein paar Scherben zusammen, versuchte zu retten, was zu retten war, aber im Grunde wusste er so gut wie ich, dass der Eindruck, den die Schöffen an diesem Vormittag bekommen hatten, nicht so leicht wieder aus ihren Köpfen zu verdrängen war.

9
    Z ur nächsten Sitzung – Mittwoch, den 21. Juni – kam Margherita nicht, weil sie irgendeinen Auftrag fertig stellen musste. Sie hatte mir gesagt, dass sie versuchen würde, wenigstens bei Abdous Vernehmung dabei zu sein.
    An diesem Vormittag wurden die Eltern und Großeltern des Kindes angehört. Der Staatsanwalt und der Anwalt der Nebenkläger befragten sie lange zu unwichtigen Details. Sie hätten darauf verzichten können.
    Ich stellte nur dem Großvater ein paar Fragen. Ob er eine Polaroidkamera besaß? Ja, das war tatsächlich der Fall, und er erinnerte sich auch daran, im vergangenen Sommer Bilder am Strand gemacht zu haben. Es war durchaus möglich – wenngleich er sich nicht daran erinnerte – dass der Junge welche davon genommen hatte. Aber er hatte keine Ahnung, was aus den Fotos geworden war.
    Die Eltern fragte ich nichts, ich beobachtete sie lediglich, während der Staatsanwalt sie vernahm, und schämte mich für die Fragen, die ich dem Carabinieri-Hauptmann über ihre Scheidung gestellt hatte.
    Die beiden waren in etwa so alt wie ich. Er war Ingenieur und sie Sportlehrerin. Francesco war ihr einziges Kind gewesen. Die Antworten, die sie gaben, und ihr Verhalten waren völlig übereinstimmend. Apathisch, unfähig, auch nur Wut zu empfinden. Erloschen.
    Abdou stand während der gesamten Sitzung an seinen Käfig geklammert da, das Gesicht zwischen die Gitterstäbe gepresst, und hielt die Augen auf die Zeugen geheftet, als wolle er ihren Blick anziehen und ihnen etwas sagen.
    Aber die sahen niemanden an und verschwanden am Ende der Vernehmung, ohne auch nur einmal zum Käfig hinüberzusehen, in dem Abdou eingeschlossen war.
    Für sie war nichts mehr von Bedeutung, nicht einmal, ob der mutmaßliche Verursacher dieser entsetzlichen Katastrophe bestraft wurde.
    Ich dachte: Wenn wir damals, als Sara es wollte, ein Kind bekommen hätten, wäre es jetzt ungefähr sechs Jahre alt.
     
    Der Prozess wurde auf den darauf folgenden Montag vertagt. Dann würde der Angeklagte vernommen werden, und man konnte zusätzliche Beweisanträge stellen, bevor die Beweisaufnahme geschlossen wurde und die Schlussplädoyers begannen.
    Als ich das klimatisierte Gerichtsgebäude verließ, legte sich die schwüle Junihitze wie eine Decke auf mich. Sie war also gekommen, wenn auch verspätet. Ich lockerte meine Krawatte und knöpfte mir den Hemdkragen auf, während ich die breite Freitreppe vor dem Justizpalast hinunterschritt.
    Auf dem Nachhauseweg spürte ich ein seltsames Brummen im Kopf. Ich dachte, womöglich kriegst du wieder einen Anfall, wie vor einem Jahr, und dabei fiel mir ein, dass ich seit damals keinen Aufzug mehr genommen hatte.
    Langsam bahnte sich die Angst einen Weg durch meine Gedanken. Ich fühlte mich wie in einem von diesen Katastrophenfilmen, in denen der Held verzweifelt durch ein Labyrinth von unterirdischen Kanälen flüchtet, während das Wasser ständig steigt.
    Dieser Gedanke half mir seltsamerweise. Ich sagte mir, dass ich keine Lust mehr hatte, davonzulaufen. Ich würde stehen bleiben, den Atem anhalten und abwarten, dass die Flutwelle mich überrollte. Egal, was auch passierte, ich war bereit.
    Und ich machte es wirklich so. Ich meine, ich blieb mitten auf der Straße stehen, atmete tief ein und harrte mit angehaltenem Atem mehrere Sekunden aus.
    Es passierte nichts, und als ich wieder ausatmete, fühlte ich mich besser. Viel besser. Mein Gehirn funktionierte plötzlich wie geschmiert, so, als wäre es mit einem Mal von Schutt und alten Verkrustungen befreit.
    Genau in diesem Moment beschloss ich, nicht sofort nach Hause zu gehen, sondern vorher kurz in meiner Kanzlei vorbeizuschauen. Ich hatte dort etwas zu erledigen.
    Unterwegs begann ich wie vor einem Boxkampf bewusst mit dem Bauch zu atmen, um einen freien Kopf zu haben und mich auf das Wesentliche konzentrieren zu können.
    Vor dem Haustor angekommen, holte ich die Schlüssel aus der Tasche, schloss

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