Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Pullover fällt über ihn her, ein zweiter, der dicker und langsamer ist, kommt hinterher. Ich entwische meinem Vater und laufe hin. Der Mann mit dem schwarzen Pullover prügelt auf den Jungen ein, der fast noch wie ein Kind aussieht. Er hämmert mit den Fäusten auf seinen Kopf ein, und als der Junge sich mit den Armen schützen will, reißt er sie ihm weg und schlägt erneut zu. Hurensohn. Miese Zecke. Dir reiß ich den Arsch auf. Verdammter Dreckskerl. Und noch ein Schlag auf den Kopf, jetzt sogar mit den Knöcheln der geballten Faust. Der Junge schreit basta, basta . Auch er im Dialekt. Dann hört er auf zu schreien und weint.
Ich betrachte die Szene wie gebannt. Sie flößt mir Abscheu und eine Art Scham ein, aber ich kann den Blick nicht abwenden.
Jetzt kommt der andere, der Dicke, angeschnauft, er wirkt irgendwie gutmütig, und ich denke, er greift bestimmt ein und unterbricht diese Prügelei. Fünf, sechs Schritte vor dem Jungen, der zusammengekauert auf der Erde liegt, bremst er ab und legt die letzten Meter gehend zurück. Als er bei dem Jungen ankommt, holt er Luft und versetzt ihm einen Fußtritt. Einen einzigen, direkt in den Bauch. Der Junge weint jetzt nicht mehr, er liegt einfach nur noch da, mit offenem Mund, und kriegt keine Luft. Mein Vater, der bis zu diesem Augenblick ebenfalls wie versteinert dastand, macht Anstalten, einzugreifen, etwas zu sagen. Als Einziger von allen Umstehenden. Der Typ mit dem schwarzen Pullover brüllt, er solle sich um seinen eigenen Dreck scheren. » Polizei! «, bellt er. Aber gleich darauf hören beide auf, den Jungen zu schlagen. Der Dicke packt ihn von hinten an der Jacke und stellt ihn auf die Knie. Hände auf den Rücken, Handschellen, während der andere ihn an den Haaren festhält. Das ist die grausigste Erinnerung des ganzen Vorfalls: wie dieser gefesselte, kleine Junge hilflos den beiden Männern ausgeliefert ist.
Mein Vater zieht mich weg, und die Szene verblasst.
Ab da sagte ich nicht mehr, dass ich Sheriff werden wollte.
Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder an diese Episode zurückgedacht. Manchmal redete ich mir ein, dass ich quasi aus Abscheu vor jenem Vorfall Rechtsanwalt geworden war. In besonders euphorischen Momenten glaubte ich das sogar.
In Wahrheit war es purer Zufall. Weil mir nichts Besseres eingefallen war oder weil ich zu faul dazu war, es mir einfallen zu lassen, was letzten Endes auf dasselbe hinausläuft.
Ich hatte mich bei Jura eingeschrieben, um Zeit zu gewinnen. Das Problem damals war, dass ich einfach nicht wusste, was ich wollte. Nach dem Examen wusste ich es immer noch nicht und beschloss deshalb, zunächst eine Weile in einer Anwaltskanzlei zu arbeiten, um noch mehr Zeit zu gewinnen.
Ich bin nur so lange Anwalt, bis ich weiß, was ich wirklich will , dachte ich mehrere Jahre lang.
Dann hörte ich irgendwann auf zu denken, weil die Zeit verging und ich Angst hatte, Konsequenzen ziehen und mir wirklich was einfallen lassen zu müssen. Nach und nach betäubte ich alles, meine Gefühle, meine Wünsche, meine Erinnerungen. Jahr um Jahr. Bis Sara mich vor die Tür setzte.
Und da kam dann plötzlich alles hoch – Dinge, von denen ich nichts geahnt hatte und die mir nicht gefielen.
»In den Erinnerungen eines jeden Menschen gibt es Dinge, die er nicht allen mitteilt, sondern höchstens seinen Freunden. Aber es gibt auch Dinge, die er nicht einmal den Freunden gesteht, sondern nur sich selbst, und auch das nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Schließlich aber gibt es auch noch Dinge, die der Mensch sogar sich selbst zu sagen fürchtet, und solcher Dinge sammelt sich bei jedem anständigen Menschen eine ganz beträchtliche Menge an.«
Dostojewskij. Aufzeichnungen aus dem Untergrund .
Es ist nicht gut, wenn diese Dinge aus dem Untergrund aufsteigen. Nicht alle auf einmal.
Dies – und mehr – ging mir durch den Kopf, während ich in meiner Kanzlei den alltäglichen Papierkram erledigte, Fristen kontrollierte, Briefe aufsetzte und vor allem Rechnungen schrieb. Das musste ich, denn mit Abdous Verteidigung würde ich mit Sicherheit nicht reich werden. Im Büro war es dank der Klimaanlage angenehm kühl, draußen brütend heiß.
Am Abend, gegen sieben, war ich fertig. Mein Zimmer ging nach Norden und hatte links vom Schreibtisch ein großes Fenster. Ich schaute hinaus, und dabei fiel mir die Sonne auf der Terrasse des Gebäudes gegenüber auf, das leise Summen der Klimaanlage, die Musik, die gedämpft aus der Wohnung
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