Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Ich sah sie mit einem fragenden Lächeln an. Maria Teresa war nicht ausgesprochen hübsch, aber sie hatte schöne, blaue Augen, die ironisch und intelligent blickten. Sie arbeitete seit vier Jahren bei mir und versuchte nebenbei, ihr Examen in Jura abzulegen. Sie wollte Richterin werden.
»Ist etwas?«, fragte ich, immer noch mit einem fragenden Lächeln auf den Lippen. Sie schien nach Worten zu suchen.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich... dass ich mich freue, dass es Ihnen besser geht. Ich war sehr... sehr besorgt.«
Ich schwieg verwundert. Wir hatten in den vier Jahren, die wir uns jetzt kannten, noch nie über persönliche Dinge miteinander gesprochen, nicht einmal ansatzweise. Im Grund hatte ich keine Ahnung, wer diese junge Frau wirklich war, ob sie einen Freund hatte, was ihr im Kopf umging, und so weiter. Deshalb hätte ich auch nie damit gerechnet, dass sie so etwas zu mir sagte, obwohl ich natürlich ahnte, dass sie mir etwas angemerkt hatte. Sie ergriff als Erste wieder das Wort.
»Ich hätte gern etwas für Sie getan, als es Ihnen so schlecht ging, aber Sie waren so... so abweisend. Ich war wirklich besorgt. Ich habe schon das Schlimmste befürchtet...«
»Das Schlimmste?«
»Ja, lachen Sie nicht. Ich dachte an die Leute, die Selbstmord begehen – ihre Freunde und Angehörigen sagen hinterher immer, sie seien in letzter Zeit so verändert gewesen, depressiv...«
»Sie dachten, ich könnte Selbstmord begehen?«
»Ja, und deshalb war ich froh, als ich vor ein paar Monaten gemerkt habe, dass es langsam wieder bergauf geht. Inzwischen scheint es Ihnen wieder richtig gut zu gehen, und ich wollte Ihnen nur sagen, dass mich das sehr freut.«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, mir kamen nur Banalitäten in den Sinn, und ich wollte keine Banalitäten von mir geben. Da rauschen ganze Welten an uns vorbei, und wir merken es nicht einmal. Ich war ziemlich bestürzt.
»Danke«, sagte ich nur. Gleich darauf stand ich jedoch auf, umrundete meinen Schreibtisch und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie errötete ganz leicht.
»Dann... bis Montag.«
»Ja, bis Montag. Danke, Maria Teresa.«
Die Vorbereitung von Abdous Vernehmung und die Klärung einiger technischer Details in Zusammenhang mit den Beweisanträgen beschäftigten mich bis kurz nach acht, danach schloss ich das Büro zu und ging. Draußen war es noch hell, eine sehr angenehme leichte Brise war aufgekommen, und ich fühlte mich euphorisch. Ich hatte meine Pflicht getan, es war Sommer, und es war Freitag. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich wieder Wochenendgefühle, und das war so herrlich, dass ich fand, es müsse gefeiert werden. Ich wollte irgendetwas unternehmen.
Als Erstes versuchte ich, Margherita auf ihrem Handy zu erreichen, aber es war abgeschaltet oder sie ging nicht ran. Später, an der Haustür, versuchte ich es noch einmal mit der Sprechanlage, aber sie war offensichtlich nicht zu Hause. Ich war ein bisschen enttäuscht, aber nur ein bisschen.
Ich überlegte mir, wozu ich Lust hatte, und es fiel mir sofort ein. Also ging ich in meine Wohnung, packte eine kleine Tasche, steckte ein paar Bücher ein, holte meinen Wagen aus der Garage und startete in Richtung Süden. Ich wollte ans Meer.
Gegen elf kam ich in Santa Maria di Leuca an, nahm ein Zimmer in einer kleinen Pension direkt am Meer und ging Abendessen. Danach machte ich einen langen Spaziergang, die Strandpromenade auf und ab, wobei ich mich immer wieder zum Rauchen auf eine Bank setzte, den Leuten zuschaute und die Abendfrische genoss. Gegen halb zwei ging ich ins Bett und schlief augenblicklich ein, um am Samstag, kurz nach neun, wieder aufzuwachen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so gut geschlafen hatte. Vielleicht mit zwanzig, oder kurz danach.
Mein ganzes Wochenende bestand aus Sonnen, Baden, Essen, Lesen, Schlafen und Leute beobachten. Denken kam so gut wie gar nicht vor. Ich beobachtete die Leute am Strand, in den Restaurants, und abends in den Gassen des Dorfes. Ich verbrachte Stunden damit, ihnen zuzusehen, ohne mich im Geringsten darum zu kümmern, dass sie mich vielleicht auch ansahen und womöglich merkwürdig fanden. Am Samstagmorgen machte ich am Strand die Bekanntschaft einer etwa fünfundsechzigjährigen, sehr fülligen Dame aus Lecce, die einen – Gott sei Dank einteiligen – Badeanzug mit hellblauen Blümchen trug. Sie war sehr sympathisch und erzählte mir, sie habe vor drei Jahren ihren Mann verloren und
Weitere Kostenlose Bücher