Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
talk about it sang, und ich dachte über die SMS nach und über viele andere Dinge mehr.
Ich weiß nicht, ob es der Wind war, der mich mit einer Gänsehaut überzog.
12
D ie Verhandlung begann, ohne Angabe von Gründen, mit nahezu einstündiger Verspätung. Ich hatte den Verdacht, dass es vor dem Einzug des Gerichts in den Verhandlungssaal eine angeregte Diskussion im Beratungszimmer gegeben hatte, denn sowohl die Berufsrichter wie die Schöffen nahmen ihre Plätze mit sehr angespannten Gesichtern ein. Einzige Ausnahme war die hübsche Dame links vom Vorsitzenden, deren Miene genauso konzentriert und feierlich war wie in allen vorangegangenen Sitzungen. Vermutlich war sie der Meinung, das sei die angemessene Haltung eines Schöffen beim Schwurgericht.
Ich überlegte mir, dass sich die Diskussion – falls ich mich nicht irrte und falls es wirklich eine gegeben hatte – vor allem zwischen dem vorsitzenden und dem beisitzenden Richter abgespielt haben musste. Das entnahm ich der Art, wie die beiden sich hinsetzten – der Vorsitzende, durch Verrücken des Stuhls, demonstrativ von seinem Beisitzer abgewandt. Letzterer blickte stur vor sich hin und hörte nicht auf, nervös seine Brillengläser zu putzen. Die beiden sollten während der gesamten Sitzung kein einziges Wort miteinander wechseln.
Das waren nicht gerade ideale Voraussetzungen für einen so wichtigen Verhandlungstag. Zu allem Überfluss schoss mir auch noch der – völlig irrationale – Gedanke durch den Kopf, dass der Vorsitzende bereits beschlossen haben könnte, Abdou zu verurteilen. Diese Befürchtung verfolgte und bedrückte mich den ganzen Vormittag hindurch.
Margherita war nicht erschienen, aber ich hatte auch gar nicht damit gerechnet.
Ich weiß nicht, aufgrund welcher Überlegungen ich zu dem Schluss gekommen war, dass sie sich an diesem Morgen – wenige Stunden nach ihrer SMS – nicht blicken lassen würde. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt Überlegungen dazu angestellt habe
Abdou wurde aus dem Käfig geholt und ohne Handschellen in den Zeugenstand geführt. Hinter seinem Rücken, mit einem halben Meter Abstand, stellten sich zwei Wachbeamte auf.
Der Vorsitzende fragte ihn zuerst, ob er wirklich keinen Dolmetscher brauche. Abodu schüttelte den Kopf, und Zavoianni sagte ihm, dass ein Kopfschütteln nicht genüge, dass er deutlich Ja oder Nein sagen und dabei ins Mikrofon sprechen müsse. Abdou sagte, in Ordnung, und Nein, er brauche keinen Dolmetscher. Er verstehe alles.
Als Nächstes fragte ihn der Vorsitzende, ob er mit einer Vernehmung einverstanden sei, und Abdou antwortete Ja , indem er mit fester Stimme ins Mikrofon sprach. Dann wurde dem Staatsanwalt das Wort erteilt.
»Also, Thiam, meine erste Frage lautet: Kannten Sie den kleinen Rubino, Francesco?«
»Ja.«
»Als Sie verhört wurden, sagten Sie jedoch, dass Sie ihn nicht kannten, wissen Sie noch?«
Es ging also gleich los. Ich sprang auf.
»Einspruch, Herr Vorsitzender. Die Frage ist unzulässig. Wenn der Staatsanwalt dem Angeklagten früher gemachte Aussagen vorhalten will, so möchte er bitte genau angeben, auf welches Protokoll er sich bezieht, und die entsprechende Stelle daraus zitieren.«
Der Vorsitzende wollte etwas sagen, aber Cervellati kam ihm zuvor.
»Ich beziehe mich auf die Niederschrift der Vernehmung durch den Staatsanwalt vom 11. August 1999. Und damit der Herr Verteidiger zufrieden ist, verlese ich auch gleich die entsprechende Aussage. Also, Thiam, Sie haben in dieser Vernehmung wortwörtlich ausgesagt, dass...«
»Einspruch, Herr Vorsitzender. Die Anklage kann nicht behaupten, dass mein Mandant etwas wortwörtlich ausgesagt hat, wenn sie aus einem Inhaltsprotokoll zitiert. Die Vernehmung, auf die der Staatsanwalt sich bezieht – die erste und einzige, der man den Angeklagten unterzogen hat – wurde weder mitgeschrieben noch auf Tonträger aufgenommen.«
Das war kein echter Einspruch, sondern diente nur dazu, den Richtern gleich zu Beginn eine wichtige Information zukommen zu lassen: Bei Abdous erster – und in der Tat einziger – Vernehmung hatte es weder Tonbandgeräte noch Videokameras noch Stenotypisten gegeben.
Der Vorsitzende lehnte den Einspruch ab und sagte zu mir, die Art und Weise, wie wir die Verhandlung angefangen hatten, gefalle ihm nicht. Ich hätte ihm gerne eine entsprechende Retourkutsche gegeben, aber ich tat es nicht. Ich sagte nur danke, Herr Vorsitzender , und ließ Cervellati weiterfragen.
»Ich verlese also die
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