Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
dass sie wirklich mich meinte. Nach hinten konnte ich nicht schauen, denn mein Stuhl lehnte praktisch an der Wand. Im Übrigen waren alle anderen Tische leer, so dass sie wirklich nur mich meinen konnte.
Angesichts meines unschlüssigen Gebarens kam sie ein wenig näher. Ihr Gesichtsausdruck war jetzt leicht verändert. Sie musste mich für sehr kurzsichtig halten oder für sehr verkalkt. Eins von beiden.
»Erkennst du mich denn nicht?«, fragte sie schließlich.
Ich reckte ihr den Hals entgegen, wahrscheinlich mit einem ziemlich dümmlichen Grinsen, und überlegte fieberhaft. Dann erkannte ich sie wieder.
Es war vor fünfzehn Jahren gewesen, vielleicht auch noch länger. Ich war gerade mit der Uni fertig. Was sie damals gemacht hatte, wusste ich nicht mehr, aber es war auf alle Fälle etwas ganz anderes gewesen. Vielleicht hatte sie Medizin studiert, vielleicht verwechselte ich sie auch mit einer anderen.
Wir waren zwei Monate oder etwas weniger miteinander gegangen. Sie war älter als ich, vielleicht fünf Jahre. Demnach musste sie jetzt um die vierundvierzig sein. Wie hieß sie bloß? Es fiel mir einfach nicht ein.
»Magda. Ich bin Magda. Was ist, erkennst du mich nicht?«
Magda. Wir waren vor fünfzehn Jahren mal zwei Monate miteinander gegangen. Und was hatten wir zusammen gemacht? Worüber hatten wir geredet?
»Magda. Entschuldige. Das kommt davon, dass ich keine Brille trage – kurzsichtig und obendrein noch eitel. Wie geht es dir?«
»Gut. Und dir?«
Es folgte eine absurde Unterhaltung. Ich erinnerte mich an nahezu nichts, was sie betraf, und war deshalb extrem vorsichtig, um mich nicht noch einmal zu blamieren. Sie erzählte mir, sie sei beruflich hier. Aus der Art, wie sie das sagte, ging hervor, dass ich hätte wissen müssen, was sie beruflich machte. Ich hatte aber keinen blassen Schimmer, und während sie redete und redete – über Scheidungen, Single-Dasein, Ferien und darüber, dass wir unbedingt mal einen Abend miteinander ausgehen mussten, mit Freunden, deren Namen mir nicht das Geringste sagten – hatte ich das Gefühl, in einen Strudel von Absurditäten geraten zu sein.
Erst als wir uns verabschiedeten, mit Umarmung und Küsschen, ging es mir besser.
Ciao Magda. Nächstes Mal finde ich bestimmt den Mut, dich zu fragen, worüber wir vor fünfzehn Jahren miteinander geredet haben, zwei Monate lang, fast jeden Abend.
Der Vorsitzende fragte den Staatsanwalt und den Anwalt der Nebenkläger, ob sie zusätzliche Beweisanträge zu stellen hätten. Beide verneinten. Daraufhin wandte er sich mit derselben Frage an mich. Ich erhob mich und zupfte ein wenig die Robe zurecht, die mir wie immer von den Schultern gerutscht war.
»Ja, Herr Vorsitzender. Wir haben einen Antrag gemäß Paragraph 507 der Strafprozessordnung. Das Gericht hat soeben gehört, wie der Angeklagte im Laufe seiner Vernehmung angab, ein Mobiltelefon zu besitzen, bzw. in seinem Besitz gehabt zu haben. Dies geht im Übrigen auch aus den Prozessakten hervor, denen, wie Sie wissen, auch das Beschlagnahmeprotokoll beiliegt. Hier ist unter anderem ein Mobiltelefon samt der dazugehörigen Mobilfunkkarte aufgeführt; der Teilnehmer, bzw. Besitzer, also Abdou Thiam, war unter der Nummer 339-7134964 zu erreichen. Nun hat der Angeklagte angegeben, dieses Mobiltelefon am 5. August auf seinen Ausflug nach Neapel mitgenommen und im Verlauf desselben vermutlich auch benutzt zu haben, indem er Telefonate tätigte und empfing. Sie wissen bestimmt besser als ich, dass man bei der Verwendung eines Mobiltelefons eine Spur hinterlässt, nämlich in den Computern des Telefondienstanbieters, in diesem Fall der italienischen Telecom. Und Sie wissen natürlich auch, dass es möglich ist, die gespeicherten Daten für bestimmte Zwecke abzurufen, insbesondere die Nummern der ein- und ausgehenden Anrufe, wann das Gespräch geführt wurde, wie lange es dauerte und vor allem die Zone, in der sich der Teilnehmer im Augenblick des Gesprächs befand.
Sie haben verstanden, worauf ich hinaus will. Ich denke, ich brauche deshalb nicht extra zu betonen, wie wichtig es für uns wäre, diese Informationen bei der Telecom-Italia einzuholen. Es stimmt, wir haben keine Zeugen, die das Alibi des Angeklagten bestätigen könnten. Die Daten des Fernsprechverkehrs, der am 5. August 1999 unter der Nummer 339-7134964 mit dem Mobiltelefon von Herrn Thiam stattgefunden hat, könnten aber möglicherweise mehr zur Wahrheitsfindung beitragen als jede Zeugenaussage. Mehr noch,
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