Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre
vom Bewusstsein, etwas Vergänglichem und zugleich Ewigem anzugehören.
Ähnlich geht es mir, wenn ich mich in die Bank eines verlassenen Gerichtssaals setze. Ich habe dann das Gefühl, ein Teil von etwas zu sein. Von etwas Wichtigem, Gesundem und Geordnetem.
Aber keine Sorge. Es vergeht sofort wieder – so gegen Viertel vor zehn, wenn man genau sein will -, wenn der Saal sich zu füllen beginnt.
»Hei, Guerrieri! Hast du hier übernachtet oder was?«
Klar doch.
Wer mich da – halb in holprigem Italienisch, halb im Bareser Dialekt – ansprach, war Castellano. Den Vornamen habe ich mir nie merken können. Castellano verteidigte ausschließlich Diebe – egal ob Autoknacker, Einbrecher, Taschendiebe, Handtaschenräuber – und kleine Drogenhändler. Wir hatten zusammen studiert, was nicht hieß, dass wir enger miteinander befreundet gewesen wären, denn wir waren allein an unserer Fakultät über tausend Studenten gewesen.
Castellano war klein und gedrungen, hatte einen Stiernacken und war bis auf zwei Haarbüschel, die ihm rechts und links über die Ohren hingen, so gut wie kahl. Allerdings drangen weitere Haarbüschel aus seinem grundsätzlich aufgeknöpften Hemdkragen, über dem eine schief hängende Krawatte hing.
Er war nicht gerade der Typ, mit dem du gern über Emily Dickinson oder Thomas von Aquin und das Problem der Ästhetik geplaudert hättest. Jedes dritte oder vierte Wort bei ihm war »Scheiße«, und in den Verhandlungspausen gab er mit Vorliebe seine erotischen Phantasien kund – um ehrlich zu sein, auch während der Verhandlungen. Diese Phantasien bezogen sich auf jedwedes weibliche Wesen innerhalb seines Gesichtsfeldes, wobei es für ihn keinen Unterschied machte, ob es hübsch oder hässlich, jung oder alt war, ob es sich um eine Sekretärin oder Referendarin, um die Angeklagte oder gar die Richterin in Person handelte. Jede von ihnen konnte im Mittelpunkt seiner höchst unromantischen Träumereien stehen.
Ich antwortete ihm mit einem ausweichenden Lächeln und hoffte inbrünstig, er würde sich mit diesem Lächeln zufriedengeben und nicht etwa auf die Idee kommen, sich neben mich zu setzen, um mit mir zu plaudern. Mein Stoßgebet wurde nicht erhört. Er stellte seine Mappe auf die Bank vor mir und ließ sich schnaubend neben mich sinken.
»Na, wie schaut’s aus, Guerrieri, alles in Ordnung?«
Ich sagte, ja, danke, alles in Ordnung. Und während ich das sagte, kramte ich in meiner Tasche, als sei ich sehr beschäftigt. Aber es nützte nichts: Castellano nahm es gar nicht zur Kenntnis, erzählte mir, an diesem Vormittag müsse er zwei alte Bekannte verteidigen, die jeweils zu vier Jahren Knast wegen Handtaschenraubs verdonnert worden waren, und fragte mich, ob ich wisse, wie sich das Richterkollegium an diesem Tag zusammensetze. Waren es gute Richter, zog er den Prozess durch, andernfalls stellte er einen Antrag auf Strafmilderung. Ich sagte ihm, wer die Richter waren, er dachte kurz nach und meinte dann, mit denen lasse er es besser nicht auf einen Prozess ankommen. Da handle er lieber einen Vergleich aus und sei noch dazu früher fertig. Was ich denn an diesem Vormittag habe?
Ach, einen von diesen Drogisten. Er wollte wissen, wie viel Jahre sie ihm in erster Instanz aufgebrummt hätten. Sechzehn? Scheiße, was er denn angestellt hätte, um so viel zu bekommen? Ob er der Boss des Drogenkartells von Medellin sei oder was? Na ja, sei ja auch scheißegal, wen kümmerten diese Hurensöhne schon, Hauptsache, sie blechten. Als wir uns lange genug über unsere Prozesse ausgetauscht hatten, wechselte er das Thema.
»Stell dir vor, Guerrieri, ich hab jetzt einen DSL-Anschluss im Büro. Der reinste Wahnsinn, damit kannst du sogar Filme aus dem Internet runterladen.«
Ich zweifelte keine Sekunde, welche Art von Filmen Castellano sich aus dem Internet runterlud.
»Gestern hab ich mir einen total geilen Megaporno runtergeladen. Danach kam ein Mandant zur Besprechung; während er laberte, hab ich mir den Film angeschaut. Den Ton hab ich natürlich vorher abgeschaltet.«
Und für den Fall, dass ich kein Mann von Welt war, schilderte er mir nun bis ins kleinste Detail, was er mit diesen Filmen anstellte, wenn im Büro oder zu Hause keiner war, der ihm auf den Keks ging. Ideal waren natürlich Laptops, weil du sie auch ins Bett mitnehmen kannst, wenn du verstehst, was ich meine.
Lieber Gott, ich will brav sein, sagte ich im Geiste. Ich schwöre, dass ich immer brav sein will, wenn irgendwer oder
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