Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
Was natürlich nur dann Sinn hatte, wenn das Verschwinden des Mädchens etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte. Andernfalls, wenn es sich um einen reinen Unfall handelte, waren meine Chancen, etwas aufzudecken, praktisch gleich null.
Während ich mit diesen Überlegungen beschäftigt war, klingelte das Telefon. Das Sekretariat antwortete, und kurz drauf leuchtete das Lämpchen für eine interne Verbindung auf. Es war Pasquale.
»Anwalt Schirani ist dran und will Sie sprechen.«
Schirani war ein gefährlicher Idiot, und die Vorstellung, dass er mit mir sprechen wollte, erfreute mich ganz und gar nicht.
Irgendjemand hat gesagt, dass sich die Menschheit in Intelligente und Dummköpfe aufteilt und in Faule und Aktive. Es gibt faule Dummköpfe, die normalerweise unbedeutend und harmlos sind, und es gibt ehrgeizige Intellektuelle, denen man wichtige Aufgaben zuteilen kann – wenngleich die großen Unternehmungen, auf allen Gebieten, fast immer von den faulen Intelligenten durchgeführt werden. Vor einer Kategorie muss jedoch gewarnt werden: der gefährlichsten, von der man schlimmes Unheil erwarten kann und vor der man sich mit größter Vorsicht in Acht nehmen muss. Das sind die unternehmungslustigen Dummköpfe.
Schirani gehörte zu Letzteren, er ist geradezu ihr Hauptvertreter, ihr perfekter Repräsentant. Er trägt Hemden mit großen Kragen und Krawatten mit riesigen Knoten. Er hat keine Ahnung – und wenn ich sage keine, meine ich keine – von der Juristerei, ist jedoch überzeugt, ein ausgefuchster Jurist zu sein, und verachtet die gewöhnlichen Anwälte. Die wenigen Male, die wir gemeinsam bei einem Fall beschäftigt waren – verschiedene Angeklagte beim selben Prozess –, war das ein Albtraum. Er beleidigte gern die Staatsanwälte, ärgerte die Richter und war überheblich den Zeugen gegenüber.
Falls es noch nicht klar sein sollte: Ich kann ihn nicht ausstehen, und das Allerletzte, worauf ich jetzt Lust hatte, war, seine Stimme zu hören.
»Pasquale, können Sie ihm nicht sagen, dass ich in einer Besprechung bin und ihn so bald wie möglich zurückrufe?«
»Ich habe es bereits versucht. Aber er besteht darauf, er sagt, dass es dringend ist und dass er wegen Michele Cantalupi anruft.«
»Gut, dann stellen Sie ihn durch«, sagte ich, nachdem ich ein stummes »Scheiße« mit den Lippen artikuliert hatte.
»Guido?«
»Riccardo.«
»Guido, was soll das?«
»Was?«
»Du hast einen meiner Mandanten in deine Kanzlei bestellt, ohne mir etwas davon zu sagen, ohne einen Hinweis.«
Ich atmete noch einmal tief durch, um ihn nicht instinktiv zum Teufel zu schicken und den Hörer aufzulegen.
»Gehe ich richtig in der Annahme, dass du von Michele Cantalupi sprichst?«
»Du gehst richtig in dieser Annahme. Warum hast du ihn in deine Kanzlei bestellt?«
In der Tat hatte ich mich schon gewundert, dass Cantalupi so ohne Weiteres eingewilligt hatte, mit mir zu sprechen. Offensichtlich hatte er das gleich wieder bereut, sich gefragt, ob er nicht einen Fehler beging, und war zu seinem Anwalt gelaufen. Ebenjenem Hornochsen, den ich jetzt in der Leitung hatte.
»Zuallererst habe ich ihn nicht herbestellt, vielmehr hat ihn die Mutter von Manuela Ferraro, seiner Ex-Freundin, die, wie du sicher weißt, seit Monaten vermisst wird, um den Gefallen gebeten, ein paar Worte mit mir zu wechseln. Ganz nebenbei erfahre ich jetzt zum ersten Mal, dass Cantalupi ein Mandant von dir ist.«
»Was hast du vor?«
Ach, nichts Besonderes. Ich dachte nur, ich könnte den Sandsack, der in meinem Wohnzimmer hängt, ersetzen und wollte dich fragen, ob du an der Stelle interessiert bist. Es ist kein schlechter Job, man muss nur den ganzen Tag herumhängen und nichts tun. Am Abend komme ich dann und prügle auf dich ein. Das wäre dann der unterhaltsame Teil, bei dem ich dich zusammenschlage.
»Die Familie des Mädchens hat mich gebeten, die Untersuchungsakte durchzusehen, um sicher zu sein, dass die Carabinieri nichts übersehen haben. Deshalb treffe ich einige der Leute, die Manuela gut kannten: Ich will sehen, ob nicht doch noch etwas zum Vorschein kommt, ob man vielleicht herausfindet, was passiert ist.«
»Du versuchst, meinen Mandanten reinzureiten?«
Drittes Durchatmen. Noch tiefer als vorher.
»Jetzt hör mal gut zu. Keiner will deinen Mandanten irgendwo reinreiten. Wie denn auch? Ich versuche nur, im Auftrag der Eltern mit den Leuten zu reden, die Manuela nahestanden. Diese Gespräche sind ihre letzte Hoffnung. Dein
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