Guillou, Jan - Coq Rouge 05 - Der ehrenwerte Mörder
Ausgangspunkt. Oder zumindest eine Hoffnung. Oder so etwas wie Selbstüberredung, damit er sich dazu motivieren konnte, eine gewisse Systematik in die Unordnung zu bringen.
Obwohl die Objektivität in Zweifel gezogen werden konnte.
Vermutlich wollte der Oberbefehlshaber Analysen auf den Tisch bekommen, die sich in polemischer Absicht gegen den linken Flügel der Regierungspartei richten ließen, ferner gegen die Friedensbewegung und einen großen Teil der einflußreichen Massenmedien, die jetzt der Meinung waren, man könne die schwedischen Streitkräfte nach Hause schicken. Jetzt sei der Frieden gekommen. Für jeden Jäger könne man so und so viele Kindergartenplätze einrichten, und der Westen habe schon gewonnen.
Es stimmte, daß der Westen gewonnen hatte. Aber es war ebenfalls wahr, daß die Friedensbewegung in all ihren Erscheinungsformen den Prozeß verzögert und um ein Haar vielleicht sogar verhindert hatte. Während der Amtszeit eines liberalen und netten amerikanischen Präsidenten wie Carter hatte die Friedensbewegung den westlichen Vorsprung gebremst, die Indienststellung von Neutronenbomben verhindert, so daß Breschnjew den Rüstungswettlauf fortsetzen konnte. Ferner hatte dies der Sowjetunion ermöglicht, in Afghanistan einzumarschieren, mit der Folge, daß die Reformpolitik in Osteuropa erst mit mehrjähriger Verspätung einsetzte.
Während der Amtszeit eines ziemlich reaktionären amerikanischen Präsidenten des Typs Westernheld, Ronald Reagan nämlich, hatte die Friedensbewegung nicht viel zu bestellen. Sie konnte die Aufstellung von Mittelstreckenraketen nicht verhindern, und damit erreichte die Sowjetunion ihre Schmerzgrenze. Die Frage war, ob sich der militärischen Bereitschaft Schwedens eine vergleichbare Analyse zugrunde legen ließe. Das war ohne Zweifel das Wunschresultat, das im besten Fall von dem schwedischen Nachrichtendienst erwartet wurde.
Auf einem Gebiet ließ sich eine vergleichbare Argumentation auf jeden Fall anwenden. Die Unterwassertätigkeit der Sowjetunion auf schwedischem Territorium hatte nicht aufgehört, sondern nur den Charakter verändert. Welche Erklärung auch dafür gefunden wurde, ob die politische Führung das Militär nicht mehr kontrollieren konnte, oder ob die politische Führung Gründe hatte, mit dieser Art Kriegvorbereitung fortzufahren, jedenfalls hatte es für Schweden und die schwedischen Streitkräfte große Bedeutung.
Carl erkannte die Gefahr, die darin lag, die Grenze zwischen objektiver, sachlicher Analyse und politischer Polemik zu überschreiten.
Er wählte eine strategische Perspektive statt einer taktischen; es war ohnehin sinnlos, sich auf kurze Sicht in Kreml-Astrologie zu vertiefen oder Wetten abzuschließen, wie lange Gorbatschow sich noch würde halten können, bevor der Aufruhr der Sowjetunion ihn hinwegfegte.
Wenn man versuchte, ein paar Jahre in die Zukunft zu sehen, was unter anderem die amerikanischen Spionagesatelliten taten, zeigte sich eine absolut katastrophale Perspektive.
Carl überlegte kurz, was der neutrale schwedische Nachrichtendienst eigentlich dafür bezahlen mußte, Zugang zu dem amerikanischen Satellitenmaterial zu erhalten. Das wußte er nicht und durfte es nicht wissen. Er sollte nicht einmal darüber nachdenken, sondern nur die Erkenntnisse anwenden. Es mußte jedoch unweigerlich teuer sein, bedeutend teurer als der übliche Austausch der Erkenntnisse aus der Funküberwachung. Die schwedischen Spionageflugzeuge über der Ostsee flogen ja praktisch in Diensten der USA. Formal waren sie neutral, in Wirklichkeit jedoch kaum, da der größte Teil der Ausrüstung amerikanisch war.
Wie auch immer. Das Material lag jedenfalls vor und sprach eine kalte, objektive Sprache. Auch die schwedischen Computer waren bei einer Doppelkontrolle zu den gleichen unerbittlichen Ergebnissen gelangt. Er selbst und Joar Lundwall hatten das Kontrollprogramm entwickelt, was ihn ebenso wie die Spione und »Reisenden« draußen im Feld dazu brachte, auf diese Entdeckungen besonders großes Gewicht zu legen, da es seine eigenen waren.
Die Sowjetunion stand vor einer gigantischen Umweltkatastrophe mit Konsequenzen, die man im Westen noch nicht einmal ahnte. Große Teile ihres Territoriums würden innerhalb von zehn Jahren vielleicht geräumt werden müssen. Der Nahrungsmittelmangel in der Sowjetunion war zu einem entscheidenden Teil eine Folge der Umweltzerstörung. In den fruchtbarsten Gebieten des Schwarzerde-Gürtels waren dreißig bis
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