Gute Leute: Roman (German Edition)
Verhängnis noch nicht, das sie über uns gebracht hat. Sie läuft frei und in aller Öffentlichkeit herum, feiert, berauscht sich, prahlt, schreibt, während alle anderen tot oder inhaftiert sind. Willst du deine Frau beschützen, Maxim? Willst du zeigen, dass du der Mann bist, der du vorgibst zu sein? Ich will diese Hure tot und verscharrt. Tot! Verstehst du?
Wenn sie einen Brief von Maxim erhielt, hoffte sie fortan, er habe ihren geheimen Wunsch erraten, habe alles verstanden und getan, was ihm aufgetragen war. Die Einzelheiten interessierten sie nicht, sie wollte nur hören, dass diese Frau zu den Toten zurückgekehrt war. Aber ein ums andere Mal, wenn sie einen seiner Briefe gelesen hatte, bereute sie, ihn nicht gleich verbrannt zu haben. Anstelle der Nachricht, die sie erhoffte, warnte er sie nur immer wieder vor dem Krieg.
Manchmal wachte sie verstört auf und voller Angst, es könnte bereits etwas passiert sein, während sie geschlafen hatte. Dann stürzte sie zum Fenster und hielt nach einer Bewegung bei den deutschen Truppen Ausschau – Flugzeugsilhouetten, Kettenspuren von Panzern, Mündungsfeuer –, kämpfte gegen den Wunsch an, sich einen Mantel überzuwerfen und zur Festung zu eilen. Stattdessen blieb sie barfuß am Fenster stehen und starrte in die Unheil verheißende Dunkelheit. Erst wenn in blassen Fetzen am Himmel der Morgen graute, verließ sie eilig die kleine Wohnung, saß in ihrem Büro und versank von neuem in ihren Aufzeichnungen und Skizzen.
Durch die Straßen streifte sie längst nicht mehr, Brest war ihr zuwider geworden. Jedes Mal, wenn sie vor die Tür trat, stieß sie auf Anzeichen einer hektischen, ängstlichen Betriebsamkeit. In den Geschäften waren immer weniger Säcke mit Mehl zu finden, das Salz ging aus, Seife und Streichhölzer wurden knapp, und aus der Finanzabteilung hieß es, die Einwohner hätten begonnen, ihre Rubel abzustoßen. Rotarmisten beschwerten sich, Schneider, Uhrmacher und Schuster würden ihre Aufträge zurückstellen. »Kunden, die schon bald tot sind, brauchen keine Uhren mehr«, hatte ein Händler gesagt, der umgehend verhaftet und verhört worden war, ehe man ihn standrechtlich erschoss.
Kein Tag verging ohne neue Gerüchte: Der Krieg habe bereits begonnen, Deutschland sei auf der britischen Insel angelandet, im letzten Krieg hätten die Deutschen belgische Kinder durch das Abhacken der Hände bestraft … Die amtlichen Stellen wurden von einem nicht enden wollenden Strom von Meldungen überflutet, von Bürgern, die deutsche Agenten in Sommeranzügen erkannt haben wollten. Es hieß, die Frauen von Brest tanzten mit gut aussehenden schweigsamen Männern, die weiße Handschuhe trügen, und deutsche Agenten hätten die Brunnen der Stadt vergiftet. In den Abendstunden wurden im »Park des 1. Mai« Tanztees veranstaltet, und mit der Zeit erkannte sie, dass es sich lohnte, dort vorbeizuschauen, da es von betrunkenen Offizieren, die über interessante Informationen verfügten, geradezu wimmelte. Ein Offizier von der »Hauptverwaltung für Aufklärung« – dem militärischen Nachrichtendienst –, mit dem sie tanzte, erzählte ihr, seine Aufgabe sei es, die europäischen Schafe zu beobachten und General Golikow, dem Kopf des Militärnachrichtendienstes, direkt Bericht zu erstatten.
»Sprich nicht in Rätseln zu mir«, flüsterte sie und kniff ihn in den Arm.
»Ich beobachte wirklich Schafe«, keuchte er, »hör nicht auf zu kneifen, bitte … Im Grunde genommen ist es ganz einfach, sollte Hitler beschließen anzugreifen, wird er seiner Industrie Order erteilen müssen, Millionen von Wollmänteln für seine Soldaten herzustellen. Und dann würde der Preis für Hammelfleisch sinken und der Wollpreis in die Höhe schießen … Im Moment gibt es allerdings noch keinerlei Anzeichen dafür.«
Zufrieden lehnte sie den Kopf an seine Schulter. Von Schafen wusste Maxim gewiss noch nichts.
Nikita Michailowitsch lauschte geduldig ihren Berichten und verkündete, soweit er verstehe, sei die Stimmung in der Stadt recht gelassen, überall wo Menschen seien, gebe es Gerüchte. Ein Überraschungsangriff sei nicht allzu wahrscheinlich. Er vertraue ihr jetzt eine streng geheime Information an: In Kreisen des Nachrichtendienstes sei man überzeugt, der Aufmarsch der deutschen Verbände entlang der Grenze sei das Präludium für eine Rede, in der Hitler uns die Forderung präsentieren wird, die Ukraine und einen Teil des Kaukasus an Deutschland abzutreten, verbunden
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