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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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lassen. Im nachhinein wurde uns klar, dass man die Zwillinge gleich am Tage ihrer Verhaftung getrennt hatte, in Leningrad schon. Bei Wlada ging alles einfacher: Eine kleine Korrektur der Papiere genügte, einen Soldaten aus ihm zu machen. Der kleine Hungerhaken dagegen sollte in einer Einrichtung für junge Kriminelle begraben werden. Stepans zweite Nachricht war, dass Wlada in Finnland gestorben war.
    Da du keine Anzeichen machtest, dich von der schrecklichen Sache zu erholen, die dir dieser Verräter – dessen Namen ich hier nicht erwähnen werde, eigenhändig habe ich seinen Leichnam den Hunden zum Fraß vorgeworfen! – angetan hatte, beschlossen wir, uns noch einmal zu beraten, wie wir dir die Neuigkeiten bezüglich des kleinen Hungerhakens beibringen sollten. Aber als wir aus Sotschi zurückkamen, war Stepan Kristoporowitsch bereits in Schwierigkeiten und wusste, dass seine Geschichte zu Ende war, weshalb er alles daran setzte, dich aus der Stadt zu schaffen und mit Kolja zusammenzubringen. Mich zog er nicht zu Rate.
    Liebste, lass mich auf jene Nacht zurückkommen, in der ich in dein Haus kam, nachdem alle verhaftet worden waren. Einige Tage waren verstrichen, ehe ich beschloss, diesen Schritt zu tun. Ich gestehe: Ich hatte Angst! Ich wusste, welchen Groll die Organisation gegen deine Eltern und die Leningrader Gruppe hegte. Habe ich in jener Nacht den Lebenstrieb in dir wieder angefacht? Hätte ich dich lieber im Bett deiner Kindheit sterben lassen sollen? Dem Bett, auf dem ich vorsichtig deinen Körper berührt habe, atemlos vor Verlangen? Weißt du noch, wie es war – wir beide in deinem Zimmer? Ein Auge auf die Tür gerichtet, das kleinste Rascheln davor lässt uns erstarren, und du lachst: »Maxim, Papa wird dich in den Kühlraum im Institut sperren!«
    Vielleicht hätte ich warten sollen, bis du selbst entschieden hattest, am Leben bleiben zu wollen. Aber ich habe es nicht getan, habe meinen Hals für uns beide riskiert. Wir haben überlebt, doch ich bin verzweifelt: Denk an deine Eltern, eines Tages werden sie freikommen und nach Leningrad zurückkehren, viele Menschen kehren jetzt zurück, eure Dichterin etwa. Was soll sie bei ihrer Rückkehr erwarten? Drei Gräber? Und was uns betrifft: Ich schwöre, wir werden wundervolle Kinder haben. Das hat auch noch drei, vier Jahre Zeit, wir hatten schon beinahe vergessen, wie jung wir noch sind.
    Das erste Bild, das ihr in den Sinn kam, war eins aus ihrer Kinderzeit: Die kleine Sascha stapft durch den tiefen Schnee, und ihr Vater schwört, der Sommer sei im Keller eingesperrt und würde diesmal nicht freigelassen werden. Kinder glauben ihren Eltern. Sie wollte nicht, dass es ein Kind gäbe, das ihr glaubte. Auch nicht ihrem Mann. Zudem verstand sie nicht, warum er sich darauf versteifte, die Tatsachen zu ignorieren: Schließlich hatte Nikita Michailowitsch den ausdrücklichen Befehl gegeben, mit allen, die versuchten, sich nach Osten abzusetzen, rigoros zu verfahren, und hatte ihr außerdem die Planung der Parade übertragen. Wie sollte sie also nach Leningrad zurückkehren können?
     
    Maxim, du gibst dich gewaltsam Illusionen hin. Liebe ist zwar ein Grund für allerlei Phantastereien, doch ich verbiete dir, auch nur den kleinsten Schritt zu unternehmen, mich von hier versetzen zu lassen. Brest werde ich nur Hand in Hand mit Kolja verlassen. Und was die Vergangenheit anbelangt – du hast dich wie ein ehrenhafter und mutiger Mann verhalten. Deine Analysen indes sind nur teilweise zutreffend, Schuld ist nicht das einzige Motiv meiner Taten, und ich möchte dich herzlich bitten, dass du in deinen Briefen künftig bei der Sache bleibst. Ich bin vollkommen auf die Aufgabe konzentriert, die man mir übertragen hat, und solche Erinnerungen schwächen mich bloß. Lass uns in Erinnerungen schwelgen, wenn wir alt sind.
    Am Ende des Briefes fügte sie noch einige Zeilen hinzu, die sie aber sogleich wieder ausstrich:
     
    Ich habe ein anonymes Schreiben aus Leningrad erhalten. Ein Gedicht von Nadjeschda P., in dem sie von einer fiktiven Morosowa schreibt, der Zwillingsschwester des Pawlik Morosow: Die Morosowa hat ihren Vater denunziert, einen Literaturkritiker und Brillenträger, der Studenten gegen die Partei aufgehetzt hat, und ihre Mutter, eine liebenswerte Hausfrau, die nichts von Literatur versteht, aber alles mit angesehen und geschwiegen hat. Sie hört noch immer nicht auf, mich zu verfolgen, wagt sogar, meine Mutter zu verunglimpfen, als genügte das

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