Gute Nacht Jakob
schräg am Horizont, bald würde es dämmern, dann käme die Nacht — mein Jaköble — ich konnte es einfach nicht fassen. Mein Herz war Eis, und die Tränen liefen mir über das Gesicht wie aus einer aufgedrehten Wasserleitung. Es war doch gar nicht möglich, das konnte doch nicht das Ende sein...
Als wir beinahe am Lokal waren, hörten wir hinter uns etwas krähen, und dann sahen wir Jakob. Er sauste mit ausgebreiteten Flügeln hinter uns her über die Wiese. Wir blieben erstarrt stehen. Dann kniete ich mich hin, und mit weit geöffneten Armen fing ich ihn auf. Er sprang mir auf die Schulter und war so außer sich und wütend, daß er mich ins Ohr biß:
Seine Menschen waren ihm weggelaufen! Wo er doch nur einen kleinen Spaß gemacht hatte! Unerhört!
Dann waren wir wieder im Lokal. Es saßen nur noch wenige Leute an den Tischen. Mir schien es, als seien hundert Jahre inzwischen vergangen. Opapa ließ sich ächzend auf einen Stuhl fallen und bestellte hintereinander drei doppelte Cognacs. Nach dem dritten schob er den Strohhut in den Nacken, haute mich auf die Schulter und fing an zu lachen: »Eigentlich war das ja ein tolles Abenteuer, was, Junge?«
»Komm, Opapa«, drängte ich, »Omama und die Mama ängstigen sich tot — du hast es selbst gesagt!«
Er sah mich merkwürdig starr an, dann lachte er: »Das nächstemal legen wir das Luder an die Kette!« Er schlug gewaltig auf den Tisch: »Zellnerin — kahlen!«
Trotz der Konsonanten-Verquatschung erschien eine Kellnerin. Sie hatte die ganze Zeit hinter einem Baum gestanden, offenbar aus Angst, daß wir mit der Zeche durchgehen würden. Auch war sie gar nicht überrascht, daß Opapa, immer noch mit dem Hut im Nacken, sie nach ihrem Vornamen fragte und ihr fünfzig Pfennig Trinkgeld gab. Dann erhoben wir uns. Auf dem Wege zum Bahnhof pfiff Opapa und wirbelte mit dem Spazierstock. Ich trabte mit Jakob hinterher. Manchmal sah ich nach unten. Er war in meiner Jacke eingeschlafen, völlig erschöpft. Ich auch.
JESSIKA
Wenige Wochen später, kurz vor Ostern, rollte Tante Jenny, die Frau von Onkel Gustl, ein. Mit ihrer Tochter Jessika. Tante Jenny kam jedes Jahr, immer mit Jessika, um die Großeltern zu besuchen und Einkäufe in der Großstadt zu machen. Sie ließ niemals die großen Ausverkäufe Ende Februar aus, und da sie im Gegensatz zu der schlanken Mama von stärkerer Statur war, blieb sie in den Frauenschlachten um den aufgestapelten Trödel des Jahres meist Siegerin. Sie hatte auch die besseren Nerven, weil sie doch das ganze Jahr auf dem Schloß in Böhmen lebte. Manchmal saß ihr Hut etwas schief, ihr Mantel war eingerissen, oder sie hinkte, weil ihr so viele auf die Füße getreten waren. Aber die Beute, die sie heimbrachte, war immer beträchtlich. Ich hatte sie eigentlich sehr gern, es ging eine entschlossene Mütterlichkeit von ihr aus, so, als ob sie viele, viele Kinder zu betreuen hätte. Und dabei hatte sie nur ihre Jüngste, die kleine dicke Josefa, mit der man noch nicht reisen konnte, und Jessika, mit der ich mich absolut nicht vertragen konnte.
»Denke daran, daß sie jünger und ein kleines Mädchen ist«, sagte die Omama in Vorbereitung ihrer Ankunft, »und außerdem ist sie deine Kusine.«
»Dafür kann ich nichts«, murmelte ich, »wenn das dämliche Weib bloß erst weg wäre!«
»Aber was hast du denn gegen sie?«
»Sie wird Jakob quälen und wieder mit meinen Soldaten spielen wollen.«
»Jakob quälen darf sie nicht, aber mit den Soldaten kannst du sie ruhig spielen lassen.«
»Und wenn se nun was kaputtmacht?«
»Dann kriegst du es neu.«
»Hm.«
Das »hm« bedeutete die Aussicht, im Wege von Ersatzansprüchen nach Jessikas Abreise meine schwere Belagerungs-Artillerie komplettieren zu können. Ich liebäugelte schon seit langem mit einer großen Kanone, aus der man richtig mit Erbsen schießen konnte. Trotzdem war ich unglücklich.
Als einziges Kind hatte ich mich niemals gegen die Konkurrenz von Geschwistern verteidigen müssen. Jetzt hatte ich plötzlich so was wie ‘ne Schwester, noch dazu solch ein fürchterlich unberechenbares Exemplar wie Jessika. Und der Konkurrenz-Bazillus traf mich mit verheerender Gewalt und in völliger Schutzlosigkeit.
Und dann kam Jessika, mit der Unausweichlichkeit eines Vorortzuges. Am Abend war sie noch müde von der Fahrt. Laut Familienbeschluß hatte ich ihr einen Kuß zu geben. Sie kniff die Lippen ein und drängte sich mit gespielter Ängstlichkeit an ihre Mutter. Dabei funkelten mich
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