Gute Nacht, mein Geliebter
Sie war bereits in der Küche, hatte das Wasser weit aufgedreht. Schuldgefühle stiegen in ihm auf. Er zwängte sich an ihr vorbei und schmiss die Zeitungen in den Papierkorb.
»Ist deine Tochter sehr krank?«, fragte er mit rauer Stimme.
»Fieber.«
»Grüß sie von mir. Sie soll zusehen, dass sie wieder gesund wird.«
Ariadne nickte. Er fasste sie sanft an den Schultern.
»Einen schönen Samstagabend wünsche ich dir. Bis Montag.«
Er hatte ihre Nummer gewählt. Er war im Grunde davon überzeugt gewesen, dass sie nicht im Telefonbuch stand, dass sie es vorziehen würde, eine Geheimnummer zu haben. Aber da hatte er sich getäuscht. Er murmelte die Nummer ein paar Mal vor sich hin, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Dann hatte er sie im Kopf.
Er empfing neue Gäste, gab ihnen ihre Schlüssel. Gegen zehn hob er langsam den Hörer und wählte Justines Nummer. Es klingelte fünfmal. Oh, mein Gott, schlief sie vielleicht um diese Zeit schon? Er wollte gerade wieder auflegen, als der Hörer abgehoben wurde. Es war vollkommen still.
»Hallo!«, sagte er vorsichtig.
Niemand antwortete.
Er meldete sich noch mal.
»Hallo. Ich würde gerne Justine Dalvik sprechen.«
Da knackte es an seinem Ohr. Die Verbindung war unterbrochen worden.
Nachdem er am nächsten Vormittag aufgewacht war, blieb er noch eine ganze Weile liegen. Im Schlaf hatte er sie vor sich gesehen. Sie balancierte über eine Reihe verteilt liegender spitzer Steine. Sie war barfuß und taumelte und rutschte. Über ihr kreiste der Vogel, unaufhörlich stürzte er auf ihren Kopf herab.
Er sah auch sich selber in diesem Traum. Sah, wie er herbeieilte und winkte. Wie er dies tat, um den Vogel zum Verschwinden zu bringen. Stattdessen erschreckte sich Justine über das Geräusch, fiel auf die geschliffen scharfen Steinkanten und schnitt sich den Hals ab. Er stand da und sah sie dort liegen, ihr Kopf hing nur noch an einem kleinen, dünnen Fleischfetzen. Tiefe Verzweiflung ergriff Besitz von ihm, die nicht völlig verschwunden war, als er erwachte.
Er stand auf. Draußen war es wärmer geworden, Regentropfen hingen am Fenster. Er stand eine Viertelstunde lang unter der Dusche. Dann wählte er wieder ihre Nummer.
Diesmal antwortete sie. Als er ihre Stimme hörte, brach ihm der Schweiß unter den Armen aus, plötzlich war er sprachlos.
»Hallo?«, sagt er ein wenig dämlich und fragend.
Sie klang, als wäre sie erkältet.
»Wer ist da, bitte?«
»Oh, Entschuldigung, ich bin es, Hans Peter. Erinnerst du dich überhaupt noch an mich?«
»Doch, natürlich erinnere ich mich.«
»Wie geht es dem Fuß?«
»Besser. Aber ganz in Ordnung ist er noch nicht.«
»Gut, ich meine, gut, dass es ihm besser geht.«
Sie lachte, begann aber sofort zu husten.
»Oh je. Hat dich jetzt auch noch die Grippe erwischt? Die Putzfrau auf der Arbeit, ihre Tochter …«
»Nein, nein, überhaupt nicht. Ich bin nur noch etwas verschlafen.«
»Ich dachte nur … dieses Buch.«
»Ja. Hast du es ausgelesen?«
»Ja.«
»Hat es dir gefallen?«
»Ich würde mich gerne … einmal darüber unterhalten. Am liebsten mit dir und … sozusagen … Auge in Auge.«
Sie lachte leise. Er sah sie jetzt vor sich, die Hügel ihrer Wangen, ihr Nasenrücken voller Sommersprossen. Er wollte fragen, was sie anhatte, was sie gerade gemacht hatte, als er anrief, was sie sich wünschte.
»Dann komm doch her«, sagte sie. »Dann machen wir das.«
Sie hatte eine schwarze Strumpfhose und einen Pullover angezogen, der ihr bis zu den Knien ging. Oder vielleicht war es auch ein dickes Strickkleid, er kannte sich da nicht so aus. Ihre Fingerspitzen waren eiskalt.
»Es ist so kalt im Haus«, sagte sie. »Ich heize und heize, aber es scheint nichts zu nützen.«
»Ich finde es nicht kalt.«
»Nicht?«
»Nein, im Gegenteil. Aber ich bin auch ziemlich schnell gegangen, ich bin wohl in Wallungen geraten.«
»Was darf ich dir anbieten?«, fragte sie.
Sie gingen in die Küche. Ihm fielen zwei Gläser auf, die auf der Spüle standen. Es war Rotwein in ihnen gewesen. Er verlor etwas von seinem Elan.
»Ich selber hätte große Lust auf heißen, schwarzen Kaffee, ich werde Kaffee kochen, möchtest du auch einen?«
»Ja, gern.«
Justine hatte eine Socke über ihren verletzten Fuß gezogen. Er bemerkte, dass ihr das Gehen immer noch schwer fiel. Sie stand jetzt vor ihm und füllte einen Melittafilter mit Kaffeepulver. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Spüle und atmete tief
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