Gute Nacht, Peggy Sue
beschäftigt waren.
»Scheint in Ordnung zu sein«, bemerkte sie. »Gehen wir.«
»Ich kann nur hoffen, daß Sie wissen, was Sie tun.« Sie stiegen aus dem Wagen und gingen den Bürgersteig entlang in Richtung Gebäude Nummer 5. Die Teenager, die die fremden Eindringlinge sofort bemerkt und ihre Antennen ausgefahren hatten, drehten sich um und starrten sie an. Adam rückte automatisch näher zu M. J. und packte sie beim Arm.
»Immer schön ruhig bleiben, Quantrell«, flüsterte sie und entzog ihm ihren Arm. »Sie dürfen Ihre Angst nicht riechen.«
»Wollte Sie nur beschützen«, zischte er.
»Oh! Ich dachte, Sie hätten Angst.«
»Das natürlich auch.«
Das Gebäude war unverschlossen. Sie gingen hinein. Der Flur war noch so, wie sie ihn in Erinnerung hatte: schmuddlige Wände, hellbrauner Teppichboden mit Pfeffer- und Salz-Muster, um die Flecken zu verbergen, die Hälfte der Glühbirnen durchgebrannt. Die Graffiti waren graphischer geworden und ließen jede Poesie vermissen. Auch die Kunst war hier eindeutig auf dem absteigenden Ast.
Der Lift war wie immer außer Betrieb.
»Ich glaube, funktioniert hat er nie«, murmelte sie mit einem Blick auf das vergilbte Schild mit der Aufschrift »Außer Betrieb«. »Es ist im vierten Stock. Wir müssen laufen.«
Sie gingen die Treppen hinauf, stiegen über kaputtes Spielzeug und Zigarettenkippen. Der Handlauf, einst hübsch lackiert, war mittlerweile von häßlichen Messerschnitzereien entstellt. Geräusche drangen durch die zahlreichen Wohnungstüren nach draußen: Kindergeschrei, dröhnende Fernsehapparate und Radios, eine kreischende Frauenstimme. Und über allem schwebte die reine und kristallklare Stimme eines Mädchens, das »Amazing Grace« sang. Die Melodie erhob sich wie eine Kathedrale über Ruinen. Als sie die Treppe zur vierten Etage nahmen, wurde die Mädchenstimme immer lauter, bis sie merkten, daß sie genau aus der Tür drang, vor der sie anhielten.
M. J. klopfte.
Der Gesang verstummte. Schritte kamen näher, und die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Ein Mädchen mit seidenem, mokkafarbenem Teint starrte sie über die Sicherheitskette hinweg aus Rehaugen an.
»Bella?« fragte M. J.
Das Lächeln, das sich auf dem Mädchengesicht abzeichnete, war wie Sonnenschein. »Tante M.!« rief sie und hängte die Sicherheitskette aus. Sie drehte sich um und schrie: »Papa Earl! Es ist Tante M.!«
»Eines meiner vielen Pseudonyme«, murmelte M. J., als sie in die Wohnung traten.
»Papa Earl!« rief Bella erneut. »Kommst du?«
»Nur keine Hektik!« brummte eine Stimme aus dem nächsten Zimmer. »Ich renne für niemanden.«
Bella warf M. J. einen verlegenen Blick zu. »Seine Knochen …«, seufzte sie. »Bei dem Wetter tun sie ihm besonders weh. Er hat miese Laune …«
»
Wer
hat miese Laune?« fuhr Papa Earl sie an und schlurfte ins Zimmer. Er bewegte sich langsam, den Kopf vornübergeneigt, sein früher pechschwarzes Haar jetzt eine grauweiße Krause.
Wie alt er geworden ist,
dachte M. J. traurig. Irgendwie hatte sie nie geglaubt, daß die Jahre bei diesem Mann irgendwelche Spuren hinterlassen könnten.
M. J. trat vor und umarmte ihn. Es war fast wie die Umarmung eines Fremden. Er kam ihr plötzlich so klein, so zerbrechlich vor, als sei er mit den Jahren geschrumpft. »Hi, Papa Earl«, sagte sie.
»Du hast Nerven, Mädel«, brummte er. »Zwei … drei Jahre bist du nicht hier gewesen.«
»Papa Earl!« mahnte Bella. »Jetzt ist sie doch da.«
»Yeah … das schlechte Gewissen hat sie hergetrieben, was?«
M. J. lachte und nahm seine Hand. Sie fühlte sich an wie Pergamentpapier. »Wie geht’s dir, Papa Earl?«
»Was geht’s dich an?«
»Hast du die Jacke gekriegt, die ich geschickt habe?«
»Was für ’ne Jacke?«
»Das weißt du ganz genau!« stöhnte Bella. »Die Daunenjacke, Papa Earl. Du hast sie den ganzen Winter angehabt.«
»Oh! Ja, die Jacke!«
Bella sah M. J. an und verdrehte die Augen. »Er liebt diese Jacke.«
»Papa Earl«, sagte M. J. »Ich habe jemand mitgebracht.«
»Wen?«
»Er heißt Adam. Er steht direkt neben mir.«
Sie drehte den alten Mann sanft herum, so daß sein Blick direkt auf Adam gerichtet war. Papa Earl streckte die Hand aus und hielt sie für den erwarteten Händedruck hin. Erst jetzt, als sich die beiden Männer gegenüberstanden, entdeckte Adam die Trübung der Pupillen in den Augen des alten Mannes.
Adam nahm die ausgestreckte Hand und drückte sie kräftig. »Hallo … Papa Earl«, sagte er.
Papa
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