Gute Nacht: Thriller (German Edition)
zurückgelassen hat?«
»Ja.« Tatsächlich hatte er sich erst heute Morgen den Kopf über deren Bedeutung zerbrochen.
»Auch diesmal wurde ein kleines Plastiktierchen gefunden – sorgfältig auf Ruth Blums Lippen drapiert.«
»Auf ihren Lippen?«
»Auf ihren Lippen.«
»Was für ein Tier?«
»Clegg sagt, ein Löwe.«
»War nicht bei der ursprünglichen Mordserie ein Löwe die erste Figur?«
»Gutes Gedächtnis, Kumpel. Wie stehen die Chancen, dass wir noch fünf weitere zu erwarten haben?«
Darauf wusste Gurney keine Antwort.
Gleich nach dem Telefonat mit Hardwick rief er Kim an. Er fragte sich, ob sie noch in Kyles Wohnung war, ob sie zusammen im Bett lagen, was sie an diesem Tag planten, ob sie schon gehört hatten …
Ihre Mailbox meldete sich. Er hinterließ eine lapidare Nachricht. »Hi. Ich weiß nicht, ob es schon in den Nachrichten gekommen ist: Ruth Blum ist tot. Sie wurde gestern Nacht in ihrem Haus in Aurora ermordet. Möglicherweise ist der Gute Hirte zurück, oder jemand will, dass wir das glauben. Ruf bitte so bald wie möglich an.«
Er versuchte es mit Kyles Nummer, der ebenfalls nicht erreichbar war, und hinterließ ihm die gleiche Nachricht.
Durch das Nordfenster des Arbeitszimmers starrte er hinaus auf den nassen, grauen Berghang. Der Regen hatte aufgehört, bloß vom Dachvorsprung tropfte es noch. Hardwicks neue Informationen hatten keine Ordnung in seine Gedanken gebracht, sondern ihn im Gegenteil weiter verwirrt. So verdammt viele Bruchstücke. Er sah keinen Weg aus diesem Irrgarten. Um einen Schritt nach vorn zu machen, musste man erst einmal wissen, wo vorn überhaupt war. Ihn überwältigte das lähmende Gefühl, dass ihm die Zeit davonlief, dass das Endspiel immer näher rückte, ohne dass er die Regeln begriffen hatte.
Er musste etwas unternehmen. Irgendwas.
Weil ihm nichts Besseres einfiel, setzte er sich ins Auto und fuhr nach Aurora.
Zwei Stunden später bog er auf die State Road am Lake Cayuga und hörte von seinem GPS , dass es nur noch fünf Kilometer bis zu Ruth Blums Adresse waren. Durch eine Reihe kahler Bäume auf der linken Seite waren der See und die Häuser am Ufer zu erkennen. Rechts von der Straße erstreckten sich hinter einem tiefen, grasbewachsenen Abwassergraben Wiesen und Büsche, die sich den Hang hinaufzogen und am Horizont stoppeligen Maisfeldern wichen. Zwischen gepflegten älteren Häusern hatten sich dort auch drei Geschäfte angesiedelt: eine Tankstelle, eine Tierklinik und eine Autowerkstatt, auf deren Parkplatz eine Handvoll Wagen in verschiedenen Reparaturstadien standen.
Ein kurzes Stück hinter der Werkstatt kam eine Kurve, und Gurney erblickte links von der Straße die ersten Anzeichen für einen Tatort: eine Ansammlung von unterschiedlichen Polizeifahrzeugen. Außerdem parkten dort vier Transporter – zwei, vermutlich von regionalen Sendern, mit Satellitenschüsseln auf dem Dach, einer mit dem Emblem der New York State Police, der offenbar die Ausrüstung der Spurensicherung enthielt, und ein ungekennzeichneter, der wahrscheinlich dem Fotografen gehörte. Kein Leichenwagen. Das hieß, dass der Rechtsmediziner schon wieder abgefahren und die Leiche abtransportiert worden war.
Als er sich näherte, zählte Gurney sechs Uniformierte mit verschiedenen Insignien, eine Frau und einen Mann in der von Zivilbeamten bevorzugten geschäftsmäßigen Kleidung, einen Spurensicherungsexperten in weißem Overall und mit Latexhandschuhen und eine modisch gekleidete TV -Dame in Begleitung von zwei Technikern mit Pferdeschwänzen.
Ein uniformierter Trooper stand mitten auf der Straße und winkte aggressiv jedes Auto weiter, das ihm zu langsam vorbeifuhr. Auf der Höhe des Hauses erkannte Gurney, dass die Polizeiabsperrung vom See bis zum Straßenrand um das gesamte Gelände führte. Er griff in sein Handschuhfach und klappte eine dünne Lederbrieftasche auf, in der die goldene NYPD -Marke aufblitzte, die in kleinen Buchstaben am unteren Rand den Vermerk Im Ruhestand trug.
Bevor der stirnrunzelnde Trooper sie genauer unter die Lupe nehmen konnte, warf Gurney die Brieftasche zurück ins Handschuhfach und fragte nach Senior Investigator Jack Hardwick.
Die Mütze des Troopers war nach vorn geschoben, und seine Augen lagen im Schatten des Schirms. »Hardwick vom BCI ?«
»Genau.«
»Gibt es einen Grund, warum er hier sein sollte?«
Gurney seufzte müde. »Ich arbeite an einem Fall, der sich auf Ruth Blum beziehen könnte. Hardwick ist informiert.«
Der
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