Gute Nacht: Thriller (German Edition)
verstand, dass Bullard diesen breiten Ermittlungsansatz wählte – sie wollte keine Möglichkeiten ausschließen.
Sie fuhr fort. »Meines Wissens existiert eine Theorie zum ursprünglichen Fall, die von Ihnen stark in Zweifel gezogen wird. Ich kann Ihnen versichern, dass ich völlig unvoreingenommen an die Sache herangehe. Ich habe kein verstecktes Interesse an einer bestimmten Version der Wahrheit. Allerdings auch keines an einem egoistischen Hickhack. Was mich interessiert, sind Fakten. Ich hege eine große Vorliebe für Fakten und habe Sie zu diesem Treffen gebeten, weil ich glaube, dass Sie diese Vorliebe teilen. Irgendwelche Fragen?«
Alles klang so geradeheraus wie Bullards klare, kraftvolle Stimme selbst. Doch Gurney wusste, dass es noch eine verdeckte Ebene gab. Er war sich ziemlich sicher, dass er eingeladen worden war, weil Bullard – wahrscheinlich von Daker – erfahren hatte, wie er Trout aus der Fassung gebracht hatte. Ihm kam also die unausgesprochene Rolle zu, die Chemie der Besprechung komplizierter zu machen und Trouts Position zu unterminieren. Er war der Joker in Bullards Hand.
»Irgendwelche Fragen?«, wiederholte sie.
»Nur eine. Ich nehme an, Daker hat Ihnen das FBI -Profil des Guten Hirten gezeigt?«
»Ja.«
»Was halten Sie davon?«
»Bin mir nicht sicher.«
»Gut.«
»Pardon?«
»Zeigt, wie offen Sie sind. Und jetzt, bevor wir reingehen, hab ich noch eine kleine Bombe für Sie.« Er öffnete das Kuvert auf seinem Schoß, zog erst den braunen Umschlag und danach das einzelne Blatt heraus. »Das wurde mir heute Morgen zugestellt. Ich hatte es schon in der Hand, aber es wäre besser, wenn niemand sonst es anfasst.«
Bullard und Clegg wandten sich zu ihm nach hinten um. Langsam und mit deutlicher Stimme las er die Nachricht vor. Wieder fiel ihm die Geschliffenheit der Formulierungen auf, vor allem der Schluss: Wenn Teufel auf den Kanzeln stehen und Engel missachtet werden, ist es die Pflicht der Aufrechten zu bestrafen, was die aus den Fugen geratene Welt belohnt. Das Merkwürdige war nur: Es war die geschliffene Beschwörung von Emotionen, die völlig emotionsfrei wirkten.
Als er fertig war, hielt er das Pamphlet Bullard und Clegg hin, damit sie es selbst lesen konnten.
Bullards Miene war wie elektrisiert. »Das ist das Original?«
»Eins von zwei Originalen, von denen ich weiß. Das andere hat Kim Corazon erhalten.«
Mehrmals blinzelte sie rasch, wie um ihr fieberhaftes Nachdenken zu verdeutlichen. »Drinnen machen wir Kopien für alle, dann kommt das Original in einen Beweismittelbeutel für die Forensiker.« Ihr Blick fiel auf Gurney. »Warum Sie?«
»Weil ich Kim Corazon berate? Weil er uns beide aufhalten will?«
Wieder das hektische Blinzeln. Sie sah Andy Clegg an. »Die Menschen, auf die in dieser Nachricht angespielt wird, müssen verständigt werden. Jede Person, die seinem Feindbild entsprechen könnte.« Sie wandte sich wieder Gurney zu. »Halten Sie es bitte noch mal hoch.« Abermals ging sie den Text durch. »Klingt, als würde er alle Verwandten der ursprünglichen Opfer bedrohen, die Kinder und auch die Familien der Kinder. Wir brauchen Namen, Adressen, Telefonnummern. Wie kommen wir möglichst schnell an diese Daten?«
Andy Clegg antwortete: »In der Akte, die uns Daker gezeigt hat, finden sich Orts- und Kontaktinformationen, aber die Frage ist natürlich, wie aktuell die sind.«
»Die beste Quelle für aktuelle Daten ist Kim Corazon«, bemerkte Gurney. »Sie steht mit vielen von diesen Leuten in Verbindung.«
»Also schön, gehen wir rein. Vor allem kommt es jetzt darauf an, alle möglicherweise gefährdeten Personen angemessen zu informieren, ohne Panik auszulösen.«
Bullard stieg als Erste aus und ging voraus ins Präsidiumsgebäude. Gurney erkannte den aggressiven Schritt eines Menschen, der in einer Krise seine volle Energie entfaltet. Als er ihr durch die schwere Glastür in den Empfangsbereich folgte, bemerkte er einen dunklen Geländewagen, der auf den Parkplatz einbog. Das schmale, ausdruckslose Gesicht hinter dem Steuer gehörte Daker.
Eine Lichtspiegelung auf der Scheibe verdeckte Dakers Beifahrer. So konnte Gurney nicht erkennen, ob Trout ihn erspäht hatte und, falls ja, wie unglücklich der FBI -Agent über seine Gegenwart war.
36
Eispickel und Plastiktiere
Der Aufruhr, den die Nachricht des Guten Hirten auslöste, und der Zeitaufwand für die verschiedenen Maßnahmen, die eingeleitet werden mussten, führten dazu, dass die Besprechung
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