Guten Morgen, meine Schoene
KAPITEL
Vom Wohnzimmerfenster aus beobachtete Jed, wie Sarah die Einfahrt entlangging. Sie hatte die Hände tief in die Taschen ihres Anoraks geschoben und hielt ihr Gesicht in den Nieselregen, als bedürfe sie dringend einer Kühlung.
Nun, ihre Wangen waren tatsächlich glühend rot gewesen, als sie seine Einladung, vorerst in Morgans’s Hope zu bleiben, abgelehnt hatte. Außerdem hatte sie irgendwie schuldbewusst ausgesehen. Aber wieso?
»Onkel Jed!« Vicky kam ins Zimmer gestürmt, gefolgt von ihrem Bruder, der ein Feuerwehrauto hinter sich her-zog. »Wo ist unsere Mom?«
»Sie geht nur ein wenig spazieren, mein Schatz.«
»Das tut sie gern«, erzählte Vicky. »Als wir in der Mir-ren Street in Quesnel gewohnt haben, war gleich nebenan ein großer Park. Dort ist Mom oft mit mir und Jamie spazieren gegangen.
Aber dann ist Daddy wieder zu uns gezogen«, ihre Stimme bekam einen traurigen Klang, »und dann war ihr oft schlecht wegen des Babys, und wir haben nur noch selten lange Spaziergänge gemacht.«
»Warum war euer Daddy weg?« fragte Jed. »Hat er in einer anderen Stadt gearbeitet?«
»Nein, schuld daran waren die Pferde.«
»Die Pferde?«
Vicky nickte heftig. »Er war verrückt nach Pferden, und«, die Kleine sah Jed bedeutungsvoll an, »er hat sein ganzes Geld auf der Rennbahn ausgegeben. Das machte Mom zornig, und sie hat ihm gesagt, dass sie nicht mehr mit ihm verheiratet bleiben will.«
Zu spät merkte Jed, dass sich das Gespräch in die falsche Richtung bewegte, und er bereute, nachgefragt zu haben. Es war nicht sein Stil, ein Kind über die Ehe der Eltern auszu-horchen. »Vicky, wie wäre es, wenn du eines von deinen Büchern…«
»Daddy hat versprochen, nicht mehr auf Pferde zu wet-ten.«
Vicky war nicht mehr zu bremsen. »Deshalb hat Mom ihn wieder aufgenommen.« Das kleine Mädchen trat neben Jed ans Fenster und sah hinaus. »Aber er hat sein Versprechen gebrochen, und da hat Mom ganz oft geweint.« Sie hauchte die Fensterscheibe an und zeichnete mit dem Zeigefinger ein rundes Gesicht – mit traurig nach unten gezogenen Mundwinkeln.
Jed presste die Lippen zusammen. Sein Bruder war also ein Spieler gewesen, und Sarah und die Kinder hatten darunter gelitten.
»Liebling«, er ging in die Knie und drehte die Kleine an den Schultern zu sich herum, »was hältst du davon, wenn ich dir und Jamie aus einem deiner Bücher vorlese?«
Vickys Augen leuchteten auf. »Oh ja, und ich suche die Geschichte aus!«
Jed nickte und setzte sich auf die lange Couch. »Jamie, komm, setz dich zu mir«, sagte er zu dem Jungen, der mit seinem Feuerwehrauto auf dem Teppich spielte.
Jamie rappelte sich auf und krabbelte glückstrahlend zu seinem Onkel auf die Couch. Inzwischen hatte Vicky ein Buch geholt und reichte es Jed, ehe sie sich an seine andere Seite setzte.
»Das ist unsere Lieblingsgeschichte«, vertraute sie ihm an.
»Sie heißt ,Goldlöckchen und die drei Bären’.« Sie kuschelte sich an ihn und blickte erwartungsvoll zu ihm auf.
Jed schlug das Buch auf, blätterte zur ersten Seite und begann zu lesen: »Es war einmal…«
Nachdem Sarah eine gute Viertelstunde bergabwärts gegangen war, kehrte sie wieder um. Der Nieselregen hatte aufgehört, und es wehte nur noch ein leichter Wind. Sie genoss die Kühle nach dem Regen und die frische, nach Kiefern duftende Luft.
Was für ein herrliches Fleckchen Erde!
Sie spürte in sich eine tiefe Sehnsucht nach einem einfa-chen und friedlichen Leben auf dem Land. Obwohl sie Jed gegenüber das Gegenteil behauptet hatte, liebte sie die Natur und fand die Gegend um den Whispering Mountain äußerst reizvoll.
Morgan’s Hope war ein idealer Ort für Kinder. Wie zur Bekräftigung dieses Gedankens bewegte sich in diesem Moment das Baby in ihrem Bauch. Dieses kleine Wesen, das ein Teil von ihr war und bald das Licht der Welt erbli-cken würde.
War nicht jede Geburt ein echtes Wunder?
Ein tiefes Glücksgefühl durchflutete Sarah und vertrieb ihre wehmütigen Gedanken. Sie fasste neue Zuversicht und kehrte beschwingten Schrittes zum Haus zurück.
Nachdem sie in der Halle Anorak und Schuhe ausgezogen hatte, ging sie zum Wohnzimmer und öffnete leise die Tür.
Das Bild, das sich ihr bot, entlockte ihr ein Lächeln.
Jed lag schlafend auf der Couch und neben ihm, ebenfalls schlafend, die Kinder.
Sarah lehnte sich gegen den Türrahmen und studierte Jeds Gesicht. Die scharfen Linien um Augen und Mund waren auch im Schlaf nicht verschwunden. Sie verliehen seinem
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