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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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gestylt, dolle politische Vorträge hielt. Übers Jahr wurde klar, daß meine Wenigkeit sie nicht über ihre alte Liebe hinwegbringen konnte. Aber warum eigentlich nicht, was hatte ein Gerd Minski, was mir fehlte? Was war an diesem anarchosprücheklopfenden, selbsternannten Studentenführer dran? Sie sollte mir mal erklären, was er denn getan hätte, um sie zu rumzukriegen, ihre Liebe zu verdienen – erzähl mir eine Geschichte, nenn mir einen Grund. War natürlich eine blödsinnige, paranoide Frage.
     
    Eines Nachts, sagte sie nach einigem Überlegen, sind wir stundenlang besoffen mit seinem alten schwarzen BMW durch die Stadt gefahren und haben gegen Morgen vor so ’nem Tante-Emma-Laden ’nen frisch gelieferten Karton Milch geklaut.
    Einen Karton frische Milch?
    Ja, einen großen Karton mit 24 Tüten Milch.
    Soviel Milch, sagte ich perplex, ist ja Wahnsinn.
     
    Damals wurde die Suggestion von Gewalt und Anarchie zur Attitude … und mir eher unangenehm, wie auch die ewigen nächtlichen Diskussionen dieser Themen. Die permanent aufgedrehte Doro schleppte mich an geheime Orte, wo auf überlaufenen Parties gerüchtweise der eine oder andere Terrorismuskandidat auftauchen sollte – schon etwas verletzend, ihre Sucherei nach den durch die Fahndungsplakate bekannten Jungs auf der Tanzfläche. Das passierte so um 1973 oder ’ 74 , doch vorm Kadi landete erst mal ich – verurteilt zu einem Monat Sozialdienst wegen dreier für Doro im Supermarkt geklauter Zigarettenschachteln. Und was passierte in den Jahren danach? Es war zum Weinen. Sie verpuppte sich – geradezu klassisch klischeehaft – zur Vorortszahnarztgattin mit abnehmender Lebensfreude, und er trug auf altgermanischen Things in der Lüneburger Heide Gedichte vor … Ja, der Minski, der wollte schon immer extrem sein und schwärmte drei Jahrzehnte nach dem Milchklau wieder für diesen Herrn Mahler – den ins Irrsinnige gewendeten Ex-Anwalt, den mein Mitdiskutant Peter von der RAF aus früheren Zusammenhängen kannte.
     
    Beim Abendessen saßen wir beide wieder nebeneinander – die von werweißwelcher Tischregie plazierten Namenskärtchen wollten es so. Die um etliche Gäste auf zwei Dutzend Leute vergrößerte Tafelrunde schien in bester Stimmung zu sein, die Sitzordnung brachte einige Teilnehmer enger zusammen, andere womöglich gar nicht. In der intimen Situation war die seltsame Verlegenheit zwischen Peter und mir spürbar stärker als vorher, eine nach meinem Eindruck über gewöhnliche Begegnungen mit Fremden hinausgehende, vielleicht gegenseitige Irritation. Wir schauten uns zunächst gar nicht an, lasen die Menükarte, ohne sie anknüpfend zu kommentieren – die Rinderklößchensuppe mit rosa Pfeffer, das gefrostete Paprikamousse, das Bonbon vom Wiesenlamm und diverse Desserts hätten durchaus einen hartlinken Kommentar vertragen, selbst den lächerlichen ›Wieso-gibt’s-denn-heut-kein-Eisbömbchen‹. Doch wir schwiegen und schlürften Suppe. Die uns beiden gegenübersitzenden, silberhaarigen Professorinnen kuckten sehr freundlich – nicht unbedingt zu mir, um genau zu sein. Jeder ihrer Blicke sagte, oh ja, wir kennen die Jahre, die ihr kennt, die verdammten, die süßen Jahre, ja, wir waren dabei in Berlin und in Frankfurt, wir verstehen euch nach wie vor, auch wenn wir schon lange am Bodensee leben. Die Namen der beiden Frauen hatte ich bei der Vorstellung nicht richtig verstanden.
     
    Doch wie und worüber wäre ein Gespräch mit meinem Nebenmann zu beginnen gewesen? Ihm noch mal vorhalten, daß sein persönliches Handeln vor über dreißig Jahren mein persönliches Lebensgefühl empfindlich gestört hatte? Ihn schuldig sprechen dafür, daß mit den penetrant gesteuerten Bildern von zerschossenen Autos und tuchbedeckten Leichen die vormals kulturrevolutionäre, emanzipatorische Bewegung massiv bloßgestellt, gar ins Absurde gelenkt worden war? Ich hätte ihm erzählen können, daß ich dennoch wegen der Stammheimer Todesnachricht den ganzen Tag wie benommen war, und zwar so benommen, daß mir eine hohe Geldbuße aufgebrummt wurde – weil mir mein Fahrrad aus den Händen flog und während eines Disputs vor den Füßen einiger der an diesem Vormittag überall herumstänkernden Polizisten landete. Ich hätte ihm erzählen können, daß mein Freund Leiser einen kannte, der einen kannte, der was wußte über den Fememord Schmücker. Ich hätte ihm auch erzählen können, daß meine Gebrauchtbuchhandlung um die Ecke ganz aktuell eins ihrer

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