Guy Lacroix: Auf der Jagd nach dem Rosenkranzmörder (Clockwork Cologne) (German Edition)
bewegten sich menschliche Konturen hinter den Vorhängen. Bald würden die Lichter verlöschen, es war Schlafenszeit.
Natalja ergriff die kalten Eisenstangen und legte die Stirn daran. War es falsch, immer wieder hier her zu kommen, sie aus der Ferne zu beobachten? Zu sehen, wie sie mit ihren Freundinnen lachte, den Nonnen zum Unterricht folgte; ihr so nah zu sein und zu wissen, dass sie Annuschka niemals würde in den Arm nehmen können?
Nein, sagte sie sich. Es war besser so. Hier bekam sie eine Chance. Eine Chance, die Natalja niemals gehabt hatte.
»Gute Nacht, Annuschka.«
Sie atmete tief durch und stieg wieder in den Wagen. »Los«, sagte sie.
Der Chauffeur drehte sich um und deutete mit dem Kinn auf das Gebäude des Internats. »Was tust du nur immer hier?«
Blitzschnell umfasste sie seinen Hals, zog gleichzeitig ihre Waffe und drückte sie in seine Wange. »Weißt du, welche Tugend ich an Menschen am meisten zu schätzen weiß?« Er gab einen Grunzlaut von sich, als sie den Griff um seinen Hals verstärkte. »Die Fähigkeit zu schweigen. Verstanden?«
»Ja«, keuchte er und sie gab ihn frei, lehnte sich entspannt in den Sitz zurück und warf einen letzten Blick auf die Fenster, die nach und nach dunkel wurden. »Bring mich zur Oper.«
Ohne ein weiteres Wort chauffierte er sie ans Ziel und stoppte vor dem Hintereingang. »Eine Stunde«, sagte sie und er nickte.
Sie ging direkt zu den Garderoben und öffnete die Tür der Primadonna, ohne anzuklopfen. Edda saß vor dem großen Spiegel, die Augen geschlossen, den Mund zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Auf ihrer Stirn glänzten Schweißperlen. Mariechen, ihre Garderobiere, nahm ihr die gepuderte Perücke ab und stülpte sie über den Perückenkopf. Natalja griff eine Bürste vom Frisiertisch, schickte das Mädchen mit einem Kopfnicken aus dem Raum und begann Eddas Haar mit langen gleichmäßigen Strichen zu bürsten.
»Es ist schlimmer geworden«, sagte sie nach einer Weile. »Du hast Schmerzen.«
Die Primadonna nahm Nataljas Hand und legte sie an ihre Wange. »Nur eine kleine Schwäche. Sie wird gleich vorbei sein.«
Ihre Haut fühlte sich kalt an. Natalja fröstelte. Wie lange noch? Einen Monat? Ein Jahr vielleicht? Ihre Hand begann zu zittern und sie zog sie zurück. Sie lief durch den Raum, nahm einen der kleinen Porzellanelefanten in die Hand, betrachtete die Fotos, die in kostbaren Rahmen die Wände bedeckten, als sähe sie die Garderobe zum ersten Mal. Edda in extravaganten Kostümen, mit strahlendem Lächeln, geröteten Wangen. Edda als Königin der Nacht, Edda als Lucia di Lammermoor. Edda. Natalja schluckte trocken. Edda hustete.
Sie goss ein Glas voll Wasser und hielt es an Eddas Lippen. Ein kleiner Schluck, der Versuch eines Lächelns. Augen voller Schmerz. Dunkler, als Natalja sie je gesehen hatte. Dunkel wie die Nacht unter dem Schutzschirm. Sie kniete nieder und legte ihren Kopf in Eddas Schoß, die Primadonna streichelte über ihr Haar und gemeinsam schwiegen sie.
Die Uhr auf der Kommode schlug zur vollen Stunde. Natalja hob den Kopf. Noch zwanzig Minuten, dann musste sie fort. Der Fürstbischof wartete nicht gerne. Edda hatte den Kragen des Kleides geöffnet und die Hand an den Hals gelegt. Sie atmete schwer. Natalja nahm die kühle Hand in ihre und betrachtete Eddas Tätowierungen. Zahlen und Zeichen, die sich um den Kehlkopf wanden wie eine Python, die ihre Beute umschlingt.
»Du könntest es entfernen lassen«, sagte sie. »Du könntest ihn bitten …«
Edda hob abwehrend die Hand und stand auf. Sie begann sich aus dem schweren Kostüm zu schälen. »Du weißt, dass dies keine Option ist. Es ist unmöglich.«
»Hat er dir das gesagt? Der Professor? Er lügt! Er will sein Spielzeug nicht kaputt machen. Sein Meisterstück.« Sie nahm eins der Bilder von der Wand und hielt es vor Eddas Gesicht. »Sieh doch nur, was er aus dir gemacht hat. Die Primadonna .« Sie lachte verächtlich. »Eine Puppe, ein … Ding, das für sein Publikum singt, wie es dem Herrn Professor gefällt.« Nataljas Lippen zitterten. Sie schleuderte das Bild auf den Boden und wandte sich ab, stützte sich auf die Stuhllehne.
Edda klaubte das Foto aus den Scherben und legte die Hand auf Nataljas zuckende Schultern. »Bitte, lass es gut sein. Wir haben das schon so oft besprochen. Du verstehst einfach nicht.«
Natalja drehte sich langsam um, sah in Eddas Augen, die in tiefen Höhlen lagen. »Du stirbst«, sagte sie. »Was gäbe es sonst noch zu
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