Gwydion 01 - Der Weg nach Camelot
Sonne hoch am Himmel stand, wusste man nicht nur wegen des Geruchs, dass dies ein Ort des Todes war. Edwin hatte einmal erzählt, dass man in früheren Zeiten, lange bevor die Römer Britannien erobert hatten, zum Tode Verurteilte an Händen und Füßen gefesselt dort ihrem Schicksal überlassen hatte. Jahrhunderte später soll das Moor sie wieder ausgespuckt haben, als seien sie erst am selben Tag gestorben. Gwyn, der damals vielleicht vier oder fünf Jahre alt gewesen sein mochte, hatte daraufhin die folgenden Nächte nicht schlafen können, weil er sich immer wieder ausmalte, wie die armen Kerle quälend langsam im Morast versanken – erst bis zu den Schultern, dann bis zum Hals und zum Mund, bis schließlich nur noch die Nase herausschaute. Und alles in der Gewissheit, dass niemand zu Hilfe kommen würde.
Edwin hatte daraufhin von seinem Vater eine gehörige Tracht Prügel bezogen, was das sowieso schon angespannte Verhältnis zwischen den beiden Brüdern nicht wirklich verbessert hatte.
Gwyn dachte an Muriel und mit einem Mal überfiel ihn hinterrücks das Heimweh. Er wusste, dass er nur einen Tagesritt von zu Hause entfernt war, trotzdem lagen zwischen ihm und Redruth Welten. Gwyn hatte sein Zuhause in der Hoffnung verlassen, hier draußen eine bessere Welt vorzufinden, doch er hatte sich getäuscht. Vielmehr hatte sie eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Moor, durch das sie jetzt gingen. Vor vierhundert Jahren hatten die Römer Ordnung, Sicherheit und Wohlstand nach Britannien gebracht und ein blühendes Gemeinwesen errichtet. Doch die Zivilisation erwies sich als eine brüchige, mittlerweile eingestürzte Fassade. Dahinter wartete die Barbarei darauf, ihr Werk der sinnlosen Zerstörung fortzusetzen. Camelot war der einzige Ort, der sich dem heraufziehenden Chaos widersetzt hatte. Doch der König und seine Ritter waren alt. Ihre Zeit würde bald ablaufen, denn niemand lebte ewig.
Oder vielleicht doch?
Nun verstand Gwyn, warum Artur in all den Jahren so beharrlich nach dem Gral gesucht hatte. Es ging ihm um die Unsterblichkeit! Vielleicht strebte der König nicht einmal das tatsächliche ewige Leben an, sondern eher die Unvergänglichkeit seiner Ideale. Und da konnte es natürlich schon helfen, wenn man sich ein wenig Zeit kaufen konnte. Ansonsten war die Unsterblichkeit keine besonders reizvolle Vorstellung, fand Gwyn. Das mochte an dem harten Bauernleben liegen, das er bis vor kurzem hatte führen müssen. Man wurde geboren, um nach einem Leben voll Mühsal und Entbehrungen irgendwann einmal zu sterben. Das war der Lauf der Dinge und darin unterschied man sich kaum von dem Vieh, das man hielt.
Er drehte sich zu Humbert von Llanwick um, der mit gesenktem Kopf mehr tot als lebendig hinter ihm herstolperte. Eine Welle des Mitgefühls und der Zuneigung stieg in Gwyn auf, als der alte Mann ihn müde anlächelte.
„Wie fühlt Ihr Euch, Sir Humbert?“
„Ich könnte Bäume ausreißen“, antwortete er mit einem schwachen Lächeln.
Gwyn lächelte. „Schön, dass Ihr noch Witze machen könnt.“
„In finsteren Zeiten wie diesen sollte man nicht den Humor verlieren, mein Junge.“
„Ich wollte Euch danken.“
„Wofür?“, fragte er überrascht.
„Dass Ihr mich zu Eurem Knappen gemacht habt.“
„Die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Du bist ein ganz besonderer Bursche, das habe ich von Anfang an gewusst. Außerdem ist Pegasus genau der gleichen Meinung. Im Zweifelsfalle hat er die bessere Menschenkenntnis.“
„Wieso hat Pegasus dann Angst vor Sir Urfin?“
Humberts Miene verdüsterte sich. „Weil er falsch spielt. Als ich damals nicht in Camelot aufgenommen wurde, hatte ich das ihm zu verdanken. Er macht immer auf gut Freund, aber wehe, man dreht ihm den Rücken zu.“
„Nun, nach allem, was ich gehört habe, seid Ihr es, dem man nicht trauen kann. Immerhin habt Ihr diese Seiten aus dem Buch gestohlen.“
Humbert stieß ein heiseres Lachen aus. „Ich weiß, dass man sich das erzählt, doch ich habe sie von Sir Lancelot erhalten. Er hat sie mir gegeben.“
Gwyn stutzte. Es war bereits das zweite Mal, dass er diesen Namen hörte.
„Er muss sie an dem Tag entwendet haben, als wir gleichzeitig Camelot verließen. Wir hatten beide einen Grund, uns für die Gralssuche zusammenzuschließen. Er musste wegen Guinevra gehen und ich, weil einige Ritter meine Aufnahme in die Tafelrunde hintertrieben.“
„Warum hat er die Seiten Euch gegeben und nicht selbst behalten?“
„Weil die Last zu
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