Gymnasium - Ein Ratgeber fuer Eltern
dann, wenn ich die mündlichen Noten bekannt gebe. Viele fühlen sich zu schlecht beurteilt. Realistische Selbsteinschätzung ist oft Glückssache! Andererseits muss ich zugeben, dass ich mir bei manchen Noten selbst nicht sicher bin. Vor allem dann, wenn ich in einer Klasse nur wenige Stunden habe, ist es äußerst schwer einzuschätzen, ob zum Beispiel der große Schweiger in der dritten Bank völlig überfordert ist oder vielleicht nur sehr schüchtern.«
Wegen dieser Unsicherheit, eine gerechte mündliche Note zu finden, hören viele Lehrer zu Beginn der Stunde den Stoff der letzten beiden Stunden ab. Der Vorteil liegt auf der Hand: Die Schüler sind gezwungen – so ist es zumindest gedacht –, sich auf jede Stunde vorzubereiten, und haben damit schon wichtige Vorarbeiten für die nächste Klassenarbeit geleistet. Und erfahren nach dem Abfragen auch gleich ihre Note.
Nur: Wie gerecht ist es zum Beispiel, wenn einer der Schüler zu einem eher schwierigen Thema abgefragt wird, ein anderer dagegen zu einem einfachen? Die Vergleichbarkeit – ein wichtiger Faktor bei der Notenfindung – ist hier fast gar nicht möglich (siehe auch Seite 122 f.).
Für Legastheniker – nach Schätzung der WHO immerhin bis zu fünf Prozent aller Schüler – sind mündliche Noten häufig ein wahrer Segen. Wie bei ihnen und bei Schülern mit Dyskalkulie bei schriftlichen Leistungen im Einzelnen verfahren wird, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Betroffene Eltern können sich beim Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie kundig machen. (Siehe auch das Kapitel: Wo bitte geht’s zum passenden Nachhilfelehrer?)
Dann müssen eben mehr schriftliche Arbeiten und mehr Tests geschrieben werden, denken Sie jetzt vielleicht. Aber auch hier gestaltet sich die gerechte Beurteilung häufig schwierig.Ursachen dafür gibt es viele: Versetzen Sie sich beispielsweise einmal in die Lage eines Deutschlehrers, der einen durchschnittlich stressigen Schulvormittag hatte und dann noch nachmittags einen Stapel Klassenarbeiten korrigieren muss. (Ihr Mitleid mit ihm wird sich vermutlich in Grenzen halten, denn wer hat keinen Stress am Arbeitsplatz!)
Viertel nach drei setzt sich also Herr Müller an seinen Schreibtisch und korrigiert die Aufsätze der 6b, die ihn in der fünften und sechsten Stunde kurzzeitig den letzten Nerv gekostet hat, weil wieder einmal 18 von 32 Schülern die Hausaufgaben gar nicht oder nur unvollständig gemacht hatten. Wahrscheinlich braucht man nicht einmal besonders viel Phantasie, um sich auszumalen, dass Herr Müller die Aufsätze sehr streng korrigieren wird, mit dem pädagogischen Hintergedanken: »Die Schüler müssen endlich kapieren, dass sie in die Gänge kommen müssen.«
Es gibt Untersuchungen darüber, dass auch die Reihenfolge, in der die Arbeiten korrigiert werden, Einfluss auf die Note haben kann. Im Blog eines Referendars wird das bestätigt: »Auch für Laien gut nachvollziehbar sind
Erwartungseffekte
. Hand aufs Herz: Fünf Aufsätze in Folge mit ›sehr gut‹ zu bewerten, wer macht das schon? Gleichzeitig werden mittelmäßige Arbeiten, die nach einer solchen Reihe sehr guter Arbeiten korrigiert werden, tendenziell schlechter bewertet, als sie es verdient hätten, was man
Kontrasteffekt
nennt. So kann die Note einer Arbeit mit davon abhängen, in welchem Kontext sie korrigiert wurde. Fatal für Schüler, deren Arbeiten nach einer Reihe sehr guter Arbeiten korrigiert werden. Außerdem gilt häufig: Ein einmal gefälltes Urteil prägt die Erwartungshaltung des Lehrers, der dann dazu neigt, dieses Urteil beizubehalten.«
Im Klartext: Der Schüler, der also oft gute Klassenarbeiten schreibt, wird eher milde beurteilt, wenn eine Arbeit einmal weniger gut ausfällt. Dasselbe gilt natürlich auch für schlechte Schüler – hier allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen!
Wie stark die Notengebung durch die Erwartungshaltungdes Lehrers beeinflusst werden kann, zeigt das Ergebnis einer Studie: Versuchspersonen, die vorgeblich einen höheren Intelligenzquotienten als die anderen Teilnehmer hatten, wurden bei gleicher Leistung deutlich besser bewertet. Ebenso vermuten Lehrer häufig, dass ein Schüler, der im Fach Mathematik gut ist, auch in Physik entsprechende Leistungen zeigen muss, und benoten dementsprechend, wenn sie den Schüler in beiden Fächern unterrichten. Bei guten Schülern wird eine schlechte Klassenarbeit eher als Ausrutscher gewertet; bei schlechten Schülern
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