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H2O

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Titel: H2O Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patric Nottret
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kaiserlichen Gartens trippelte. Nach einigen Metern wurde er sicherer. Die beiden ließen die Gruppe der anderen Männer hinter sich.
    Sénéchal fragte:
    »Nehmen Sie keinen Ihrer Leibwächter mit auf den Spaziergang, Monsieur Takenushi?«
    »Ich dürfte Ihnen das natürlich nicht sagen, aber ich habe einen verborgenen Kurzwellensender - mit langer Reichweite - bei mir, der meine Männer informiert, falls mir etwas zustoßen sollte. Ich muss so leben ... Ich habe dieses Leben gewählt ... Ich darf Sie auch daran erinnern, dass ich etwas mehr als hundert Jahre alt bin und dass mein Arzt - selbst aus der Entfernung - wissen muss, in welchem Rhythmus mein Herz schlägt. Sagen Sie, Monsieur Sénéchal, finden Sie nicht, dass in diesem Wald etwas fehlt?«
    »Doch, es gibt keine Vögel, zumindest höre ich keine.«
    »Sehr gut beobachtet. Die Vögel haben leider kein Aufenthaltsrecht in meinem Gewächshaus, weil sie die Raupen fressen, die ich aus aller Welt kommen lasse und aus denen diese wundervollen Schmetterlinge entstehen ...«
    »Haben Sie diese Treibhäuser gebaut?«
    »Nein, ich habe sie gekauft. Hier gab es ein großes Gartenbauzentrum ... Dann kam die Wirtschaftskrise ... Ich habe nur einige Partien erhöhen lassen, um Platz für die großen Bäume zu schaffen. Belüftungs- und Bewässerungssysteme waren großenteils schon vorhanden ... Ah! Hier sind wir.«
    Er wies mit seinem Stock auf einen Haufen trockener Blätter.
    »Wissen Sie, dass der Wald ein Milieu ist, in dem alles ›recycelt‹ wird? Die Nahrung dringt in den Boden und von dort in die Wurzeln, dann wandert sie weiter in die Blätter und von den Blättern wieder in den Boden. Jedes Jahr derselbe Zyklus, in alle Ewigkeit. Und die gefräßigsten Pflanzen mit dem stärksten ... Fortpflanzungstrieb haben das beste Wachstum. Andere erreichen kaum einen Meter pro Jahrhundert.«
    Er blieb stehen und lächelte.
    »Wenn ich es recht bedenke, sind sie wie ich.«
    Takenushi trottete langsam weiter - wie ein Aufziehspielzeug, dachte Sénéchal. Schweigend erreichten sie eine Kreuzung. Hoch über ihren Köpfen konnten sie durch das Glasdach die Wolken erkennen, die über den Himmel zogen. Die Blätter um sie herum zitterten in einem kaum wahrnehmbaren Windhauch.
    Takenushi hob die hinter der Brille verborgenen Augen zu dem Laubdach eines großen Baumes.
    »Da ist er. Nehmen Sie mein Stethoskop und hören Sie sein Herz.«
    »Wie bitte?«
    »Es ist eine Akazie. Ihre Blüten haben einen betörenden Duft, und ihr Holz ist sehr hart. In Wüstenregionen erreichen die Wurzeln eine Tiefe von bis zu fünfundzwanzig Metern ... Die Eingeborenen machten aus dem Holz ihre Bumerangs. Wir Japaner benutzen es für Golfschläger. Legen Sie die Membran flach auf den Stamm. Dort finden Sie eine etwas abgenutzte Stelle - in meiner Höhe natürlich.«
    Mit seinem knochigen Zeigefinger deutete er darauf.
    »Sehen Sie es? Bücken Sie sich doch ein wenig.«
    Sénéchal kam sich albern vor. Dennoch trat er einen Schritt vor und beugte sich hinab, um das Stethoskop an den Baumstamm zu halten. Zu Anfang hörte er nichts, dann drang Knacken und Knarren an sein Ohr und ganz im Hintergrund das Geräusch des zirkulierenden Saftes. Langsam wandte er sich zu dem Greis um, der reglos dastand.
    »Unglaublich!«
    »War das Ihnen als Ökoexperten etwa nicht bekannt?«
    »Meine Dienststelle begeistert sich nicht unbedingt für unterhaltsame Ausflüge in die Naturwissenschaft. Wir beschäftigen uns eher mit der Vergänglichkeit der Arten ... Ich meine, vor allem mit der unseren.«
    »Es handelt sich um ein elektronisches Stethoskop, die Signale werden verstärkt. Die Bäume leben, und das rufe ich mir gerne jeden Tag in Erinnerung. Dort hinten sehen Sie eine Zeder aus meiner Heimat. Eine Cryptomeria, auch Sicheltanne genannt. Ich habe sie natürlich aus Nostalgie hierherschaffen lassen und auch weil die japanische Zeder alle Rekorde an Langlebigkeit bricht. Diese hier ist erst zweihundertfünfzig Jahre alt.«
    »Ein Kind sozusagen.«
    »Nahe dem Strand von Okinawa gibt es einen Felsen mit einer uralten Inschrift. Sie besagt: Mit siebzig Jahren bist du noch ein Kind, mit achtzig kaum ein Jugendlicher, und wenn dich mit neunzig die Ahnen einladen, Zu ihnen ins Paradies Zu kommen, so bitte sie Zu warten, bis du hundert bist, um dann die Frage neu Zu erörtern.« Er lächelte. »Ich weise Sie darauf hin, dass man in der Gegend von Okinawa sehr alt wird. Die japanische Bevölkerung besitzt weltweit die

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