Haarmanns Kopf
Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass Sie nirgendwo eine so hohe Dichte an Psychopathen wie in den Hochsicherheitstrakten unserer Gefängnisse finden. Nach meiner Erfahrung und Einschätzung sind mindestens ein Drittel der Menschen dort Psychopathen. Man geht heute davon aus, dass circa 50 Prozent aller schweren Gewaltverbrechen auf ihr Konto gehen. Psychopathen töten aus nichtigen Anlässen, mit völlig entspanntem Pulsschlag. Ohne zu zögern“, deklamierte Dr. Paganetti. „Als Kriminalisten werden Sie jetzt denken, dass sich dadurch der Täterkreis eingrenzen lässt. Leider muss ich Ihnen sagen, dass meine Ausführungen nur ein Teil der Geschichte sind. Denn die meisten Psychopathen sitzen nicht im Gefängnis. Vielmehr führen sie ein freies und unerkanntes Leben. Meist wirkt der typische Psychopath sehr angenehm und hinterlässt einen positiven Eindruck, wenn man ihm zum ersten Mal begegnet. Er trägt eine Maske der Normalität . Und genau das macht ihn so gefährlich.“
„Das heißt, Sie gehen konform mit Dr. Ebeling?“, fragte Yannik.
„Ich würde sagen, es spricht vieles dafür, dass wir es hier mit einem Psychopathen zu tun haben. Ich will jetzt nicht zu weit ausholen, aber wir müssen uns zunächst klarmachen: Was genau macht einen Menschen zum Psychopathen? Und woran kann man ihn erkennen? In Kurzform würde ich ihn so beschreiben: Er ist charmant wie George Clooney, verlogen wie Pinocchio, betrügerisch wie Bernard Madoff, selbstherrlich wie Josef Stalin, aufbrausend wie Adolf Hitler und sexuell untreu wie Giacomo Casanova. Ein Psychopath übernimmt niemals Verantwortung für sein Tun. Und der vermutlich entscheidende Punkt: Psychopathen sind nicht dazu in der Lage, Reue oder Mitgefühl mit anderen Menschen zu empfinden. Sie haben buchstäblich kein Gewissen. Unter dem Strich sind sie Raubtiere in Menschengestalt.“
„Es scheint so, als habe sich der Täter in einer Art Rauschzustand befunden“, sagte Yannik. „Können sexuelle Motive eine Rolle gespielt haben?“
„ Auf die Frage nach den Motiven gibt es leider keine pauschale Antwort“, antwortete Dr. Paganetti. „Man kann sich ihr jedoch annähern, indem man einen Blick auf die verschiedenen Typen von Mördern wirft. Sie sagten mir doch vorhin, dass es im Obduktionsbericht keinen Hinweis auf sexuelle Handlungen gibt. Wenn wir davon ausgehen, dass es dem Täter Freunde bereitet hat, sein Opfer mit einem Biss in die Kehle zu töten, kann das auf eine extreme Form der Aktiven Algolagnie hinweisen.“
„Was, bitteschön?“, fragte Yannik erstaunt.
„Darunter versteht man eine Störung der Sexualpräferenz.“
Martin schüttelte mit dem Kopf.
„Einfach ausgedrückt ist es die sexuelle Lustempfindung beim Zufügen von Schmerzen“, sagte Dr. Paganetti lächelnd. „Das heißt, der Täter ist – während er seinem Opfer in die Kehle biss – vermutlich zu sexueller Erregung gelangt. Vielleicht sogar bis zum Orgasmus. Aber das ist Spekulation.“
„Aber warum hat er den Kopf Haarmanns gestohlen?“, fragte Martin.
„Das, meine Herren, kann ich Ihnen nicht beantworten. Dafür kann es ganz unterschiedliche Motive geben. Es scheint so, als bestünde hier eine Mischung aus Sexual- und Raubmord. So könnte man es zumindest deuten, wenn man den Mord und den Diebstahl des Kopfes miteinander verbindet.“
„Womit die Frage nach dem Motiv aber nicht beantwortet ist.“
„Wie ich schon erwähnte, das kann man unmöglich sagen. Aber lassen Sie mich Ihnen noch ein Beispiel nennen. Die Geschichte kennt einige Fälle, die durchaus Ähnlichkeiten mit diesem Fall aufweisen. Sagt Ihnen der Name Douglas Clark etwas?“
„Nein“, antwortete Martin.
„Douglas Clark war ein US-amerikanischer Serienmörder, der mit seiner Komplizin in den 1980er Jahren eine Reihe von Morden beging. In einem Fall enthauptete er eine junge Frau und bewahrte den Kopf im Kühlschrank auf. Er verlangte von seiner Komplizin, dass sie den Kopf schminkte und hübsch zurecht machte. Clark fand Gefallen daran, die Trophäe zum Duschen mit ins Badezimmer zu nehmen, um an ihr nekrophile Handlungen vorzunehmen. Wie dieses Beispiel zeigt, besteht durchaus die Möglichkeit, dass der Täter auch eine derartige Veranlagung hat.“
„Das hilft uns auch nicht wirklich weiter“, sagte Martin. „Können Sie uns etwas über die Intelligenz des Täters sagen?“
„So makaber das auch für Sie klingen mag, es wäre leichter zu erklären, wenn wir es mit einem
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