Haarmanns Kopf
Dort befand sich ein rollbarer Ständer, auf dem ein menschliches Skelett befestigt war.
„Darf ich vorstellen? Das ist Mister Bone . So wird er zumindest von unseren Studenten genannt.“ Ebeling lachte.
Vorsichtig schob er den Ständer in die Mitte des Raums. Die Knochen des Skelettes bewegten sich an ihren Drahtgelenken, und die Ellen schlugen gegen das Becken, wobei sie leise klapperten.
„Das, Venneker, ist das anatomische PVC-Modell eines menschlichen Skelettes, wie sich unschwer erkennen lässt. Wie Sie sehen, befindet sich auf der linken Seite – rot aufgemalt – ein Teil der menschlichen Muskeln. Insgesamt besitzt ein durchschnittlicher Zeitgenosse mehr als 650 davon. Dabei bilden die Kaumuskeln die kräftigste Muskulatur des Körpers.“
Sein Zeigefinger deutete auf den seitlichen Kopfbereich des Schädels.
„Ich will Ihnen jetzt keinen wissenschaftlichen Vortrag halten, aber ich denke, dass Sie ein paar Punkte wissen sollten. Unsere Zähne können einen kräftigen Druck ausüben. Etwa 80 bis 100 Kilogramm pro Quadratzentimeter. Stellen Sie sich einfach einen erwachsenen Menschen vor, der das Kunststück vollbringt, auf einem Würfel der Größe eines Zuckerstücks zu balancieren. Der Druck, mit dem der Würfel dann auf seine Unterlage drückt, entspricht dem Druck von Zahn auf Zahn in unserem Mund, wenn wir kräftig zubeißen.“
Dr. Ebeling machte eine Pause.
„Das ist sehr interessant“, merkte Martin an, „aber was wollen Sie mir damit sagen?“
„Ganz einfach. Es wäre sicher sehr schwierig, diesen Druck mit einem künstlichen Gebiss zu simulieren. Sie müssen die Frage beantworten, wie das – technisch gesehen – abgelaufen sein soll. Also, wenn Sie mich fragen, halte ich es für möglich, aber für ziemlich unwahrscheinlich. Wer sollte denn nach Ihrer Meinung dieser einfallsreiche Täter sein?“
„Das ist die zweite Frage, die ich an Sie habe.“
„Ja?“
„Was halten Sie von Dr. Paganetti?“
„Dr. Paganetti? Ich halte eine ganze Menge von ihm. Er ist ein überaus versierter und hilfsbereiter Kollege. Aber ich hatte bereits ihrem Kollegen gesagt, dass ich schon länger keinen direkten Kontakt mehr zu ihm habe. Wir haben uns irgendwie aus den Augen verloren. Ich hatte Sie aber nach dem Verdächtigen gefragt.“
„Das ist Dr. Paganetti.“
„Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder? Herr Venneker, ich bitte Sie, der Mann ist über jeden Zweifel erhaben. Er verfügt über eine ausgezeichnete ...“
„Ja, ich weiß“, unterbrach Martin den Arzt. „Er verfügt über eine ausgezeichnete Reputation. Untadelig. Vermutlich ein ehrenwertes Mitglied der Society und per Du mit den Reichen, Mächtigen und Schönen.“
Dr. Ebeling schaute Martin skeptisch an. „Höre ich da so etwas wie Sarkasmus? Wissen Sie, ich kann nicht behaupten, dass ich zum engeren Freundeskreis des Kollegen gehöre, doch ich glaube, dass Sie ein vollkommen falsches Bild von dem Mann haben. Soweit ich weiß, ist er nicht verheiratet, aber sozial engagiert. Er lebt sehr zurückgezogen, und in seiner Freizeit schreibt er, soweit mir das bekannt ist. Ich hatte Ihrem Kollegen sein letztes Werk empfohlen.“
„Ja, Transzendenz und das Böse heißt der Titel. Er hat schon mit dem Lesen begonnen.“
„Sieh an. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Ganz ehrlich, Herr Venneker, vergessen Sie Ihre Theorie ganz schnell. Für den Mann lege ich meine Hand ins Feuer.“
„Wenn Sie sich dabei mal nicht verbrennen.“
12
Die Wohnung Olaf Schröders befand sich am westlichen Stadtrand Göttingens, circa vier Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Die Wohnsiedlung, auch unter dem Namen Quartier Grone-Süd bekannt, wurde in den 1960er Jahren errichtet und war von überwiegend 4- bis 6-geschossigen Bauten geprägt. Am Siedlungsrand befanden sich Reihenhäuser. Grone-Süd zählte zu den benachteiligten Stadtteilen. Das Bild des Viertels war durch steigenden Wohnungsleerstand, Vandalismus und vernachlässigte öffentliche Freiflächen geprägt.
Von der Kasseler Landstraße bog Yannik in die Deisterstraße ab und parkte vor dem mittleren von drei Häuserblöcken. Die triste Fassade des grauen Komplexes wirkte wenig einladend.
Vom Parkplatz aus begleitete ihn eine Schar lärmender Kinder zum Hauseingang. Sie bildeten einen Kreis um ihn und sangen lauthals ein Lied, das Yannik schon einmal gehört hatte:
Warte, warte nur ein Weilchen,
bald kommt Haarmann auch zu dir,
mit dem kleinen Hackebeilchen,
macht er
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