Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Haarmanns Kopf

Haarmanns Kopf

Titel: Haarmanns Kopf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roy Ebstein
Vom Netzwerk:
brennende Ewigkeit – ja, die gestorbene Seele zu sehen.
    Er hatte das letzte Zucken, den letzten Atemstoß, den letzten Blick nicht hautnah miterleben dürfen. Tränen liefen über sein Gesicht. Der Präparator legte seinen Kopf mit der Seite auf die Brust seines Opfers und streichelte es zärtlich – minutenlang. Dann ließ er ab von ihm und hörte auf zu weinen.
    In den folgenden Stunden entnahm er dem Toten sechs Liter Blut, wusch und desinfizierte ihn. Mit einem Trennschleifer und einer Elektrosäge zerlegte er die Leiche in handliche Teile, die eine Länge von 35 Zentimetern nicht überschritten. Der Zerstückelungsvorgang erforderte seine ganze Kraft und Konzentration. Dabei waren es weniger die Knochen, die ihm alles abverlangten, sondern eher die Zähigkeit der Sehnen, die immer wieder das sonore Geräusch des Elektromotors und die gleichmäßige Bewegung der gegeneinander laufenden Sägeblatter unterbrach.
    Leichenteile, immer wieder die Leichenteile.
    Das Ausweiden und die Zerstückelung waren längst zu seiner Obsession geworden. Das haptische Erlebnis, das ihn bei der Berührung eines Toten erfasste, sollte ihn nie mehr loslassen. Für ihn war es vor allem der Duft des toten Fleisches und das strenge Aroma der Gedärme, das ihn faszinierte. Früher war ihm der Geruch in seiner Alltäglichkeit noch profan erschienen, gar nicht sonderlich bemerkenswert. Als Leichenbestatter hatte er ihn täglich eingeatmet, den Odem des Todes. Jetzt war alles anders. Nun erfüllten sich alle seine Sehnsüchte in dieser Handlung, die er wie ein sakrales Ritual zelebrierte.
    Er packte die Leichenteile vorsichtig in Doppelverschluss-Gefrierbeutel und verstaute diese in den beiden großen Gefriertruhen. Dabei musste er pragmatisch vorgehen, weil in einer der beiden Truhen der tote Kettner lag, dessen Plastination noch ausstand und die andere Truhe bereits bis zum Rand mit diversen Körperteilen gefüllt war.
    Den fast vollständig ausgehöhlten Rumpf und die noch warmen Baucheingeweide Schröders packte er in den Bigbag, schleppte diesen über die Kellertreppe nach oben und entleerte ihn im Anschluss in der alten Jauchegrube im hinteren Bereich des Hofs. Den mit der Elektrosäge und einem Skalpell abgetrennten Kopf Schröders legte er ebenfalls in die Gefriertruhe. Abschließend reinigte er den Tisch, den Fußboden sowie einen Teil der benutzten Werkzeuge und begab sich zu Bett, in der Gewissheit, dass er gut schlafen würde.

 
    Er fiel in einen tiefen Traum und sah einen leuchtenden Kreis, inmitten einer Wand, erbaut aus wuchtigen Steinen, in Jahrmillionen zu festem Sand gepresst . Zunächst erschien ihm alles vage und verschwommen, dann wurden die Konturen deutlicher.
    Das musste der Eingang zum Totenreich sein, ganz so, wie ihn einst die Griechen in ihren alten Sagen beschrieben, von denen er als Kind gehört hatte. Die Pforte war versperrt und wurde bewacht, damit kein Lebender die Unterwelt betrat und kein Toter sie verließ.
    Davor ein Mann, die Hände in Schulterhöhe gegen die Tür gedrückt, seine Finger weit auseinander gespreizt. Seine Silhouette wirkte so, als wolle er um Hilfe schreien.
    Vergeblich.
    Ihm fehlte der Kopf.
    Sein Traum führte ihn weiter in einen imaginären Raum, in dem er bereits erwartet wurde. Er vermochte nicht zu sagen, auf welche wundersame Weise er hierhergelangt war. Aber das war jetzt unwichtig.
    Unwillkürlich, unbewusst traf er auf ein Wesen, das er über alles liebte und dessen Ansprüchen er genügen wollte. Eins werden wollte er mit dem Idol, das er in dessen Seele erkannte.
    Haarmanns Konturen waren durch einen dunstigen Nebel eingetrübt, seine Stimme gedämpft, als er sagte: „Hallo, mein Freund. Wann fügst du das zusammen, was zusammengehört? Ohne meinen Kopf und mein Gehirn bin ich ein Nichts. Ein Niemand. Hilf mir.“
    Die schwarzen Fluten eines mächtigen Flammenflusses drohten ihn fortzureißen und seine Seele zu verbrennen. Im Angesicht der drohenden Gefahr schwor er einen heiligen Eid, den er niemals brechen würde.
    „Ich werde dir helfen“, rief er laut.
    Dann wachte er schweißgebadet auf und setzte sich auf die Bettkante. In dieser Nacht würde er keinen Schlaf mehr finden. Er stand auf, um seinen väterlichen Freund anzurufen. Sicher, es war mitten in der Nacht, doch er musste wissen, wann er endlich Haarmanns Wunsch erfüllen durfte.
    Es duldete keinen Aufschub mehr.

16
     
    Der Samstagmorgen war trüb und grau. Ein kalter Wind fegte über den Asphalt des

Weitere Kostenlose Bücher