Haarmanns Kopf
Entsetzliches, Grauenhaftes vom Bösen im eigentlichen Sinne zu unterscheiden. Können Sie mir erklären, was Sie damit genau meinen? Das hört sich so an wie ein Plädoyer für das Böse.“
„Sie erstaunen mich, Herr Venneker“, sagte Paganetti. „Ich wusste nicht, dass Sie sich für Transzendenz interessieren.“
„Wenn Sie in Zusammenhang mit dem Bösen steht, schon.“ Martin lächelte.
„Sie haben da eine Passage gewählt, die sich auf die philosophischen und die ästhetischen Aspekte bezieht, und diese sind natürlich aus dem Kontext gerissen. Aber sei’s drum, was ich damit sagen will ist, dass die größte Gefahr in der Ideologisierung des Bösen liegt. Eine weitere Gefahr ist die, das Böse aufzulösen in Bedingungsverhältnisse ökonomischer, politischer, sozialer und psychologischer Natur. Man kommt so sehr schnell zu dem Ergebnis, mit den ökonomischen Verhältnissen und den politischen Rahmenbedingungen böse Handlungen erklären zu können. Es ist also genau das Gegenteil von dem, was Sie vermutet haben.“
„Halten Sie es nicht für gefährlich, sich dem Bösen auf diese Art und Weise zu nähern?“
„Ganz im Gegenteil. Es ist doch so, dass Krankheit, Schmerzen und der Tod zum menschlichen Dasein gehören. Genauso wie das Glück, die Gesundheit, die Freude und alles Schöne. Um das Böse zu begreifen, müssen wir es vom faktischen Negativen und Schrecklichen unterscheiden. Wir müssen gemischte, graduelle Verhältnisse zwischen Gutem und Bösem denken und begreifen – in uns selbst, und auch um uns herum. Um nichts anderes geht es.“
„Erklären Sie das auch Ihren Patienten?“
„Herr Venneker, ich weiß nicht, welche Vorstellung Sie von meinem Berufsstand haben. Ich bin Spezialist auf dem Gebiet der Forensischen Psychiatrie, und in der Regel geht es in der Therapie um andere Gesprächsinhalte.“
Paganetti lächelte milde und schaute auf seine Armbanduhr.
„Ich möchte jetzt mit meinem Anwalt reden und danach mit Herr Dembowski“, sagte Paganetti.
„Kein Problem“, antwortete Martin. „Ich wäre Ihnen übrigens sehr dankbar, wenn Sie Dembowski noch einmal ans Herz legen, uns Akteneinsicht in seine Patientenakte zu gewähren.“
„Ich glaube, dass das ein extrem schlecht gewählter Zeitpunkt ist. Es ist für ihn schon schlimm genug, aus seiner gewohnten Umgebung gerissen worden zu sein. Aber ich werde sehen, was ich erreichen kann.“
Um 16:30 Uhr traf der Anwalt ein, in dessen Beisein die Vernehmung Paganettis fortgesetzt und Dembowski verhört werden sollte.
Im grellen Neonlicht des Verhörraums saßen auf der einen Seite des Tisches Dembowski, Paganetti und der Anwalt, auf der anderen Seite Martin und Yannik sowie Staatsanwalt Neubert.
Yannik stellte noch einmal förmlich die Personalien Dembowskis fest. Dann teilte er ihm mit, dass er als mutmaßlicher Täter galt. Dembowski verzichtete auf die erneute Nennung seiner Rechte und stimmte zu, dass das Verhör auf einem Tonträger mitgeschnitten wurde.
Jürgen Ohlinger war ein Anwalt alter Schule, und er legte sich sofort mit Staatsanwalt Neubert an: „Meine Herren, ich halte die Unterbringung Dembowskis außerhalb der Animus-Klinik für unverantwortlich. Muss ich Sie wirklich daran erinnern, dass die Unterbringung eines psychisch kranken Gefangenen nur in vorheriger Abstimmung mit dem zuständigen Arzt erfolgen darf? Ich zitiere wörtlich aus dem Vollstreckungs- und Einweisungsplan für das Land Niedersachsen vom 1.5.2013: Psychisch erkrankte Gefangene, bei denen eine stationäre psychiatrische Behandlung erforderlich ist, sind zu überstellen in die JVA Sehnde .“
„Ich muss Sie da korrigieren, Herr Anwalt. Die Staatsanwaltschaft hat nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung aller vorliegenden Fakten entschieden, dass Gefahr im Verzug ist. Das macht die Unterbringung Herrn Dembowskis in der Justizvollzugsanstalt Rosdorf erforderlich. Wie Sie wissen, verfügt die JVA über eine Hochsicherheitsstation der Sicherheitsstufe I. Im Anschluss an dieses Verhör wird er dort untergebracht. Zum anderen sehen wir keinen Verstoß gegen ...“
„Wann wird Herr Dembowski dem Haftrichter vorgeführt? Sie wissen, dass das nach Paragraph 114a StPO unverzüglich zu erfolgen hat“, sagte Ohlinger.
„Sie dürfen voraussetzen, dass ich das weiß, Herr Ohlinger. Trotzdem vielen Dank für den Hinweis. Der Termin ist für Montagmorgen 8:30 Uhr angesetzt“, antwortete Neubert.
Plötzlich brach Dembowski weinend zusammen und
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