Hab und Gier (German Edition)
werden, dachte ich und sprach ausführlich über Wolframs Krebserkrankung und seine schwere Depression mit suizidalen Anwandlungen.
»Ich bin eine ehemalige Kollegin von Herrn Kempner«, schloss ich. »Er braucht ein bisschen moralische Unterstützung und praktische Hilfe, deswegen kümmere ich mich gelegentlich um ihn.«
»Wir Nachbarn würden auch gern helfen«, sagte sie, »aber er hat immer abgeblockt. Warten Sie mal, bei uns blühen gerade die schönsten Frühlingsblumen. Ich pflücke schnell ein Sträußchen für den Kranken.«
Ich folgte ihr in den angrenzenden Garten und war entzückt über die blauen Hyazinthen, roten Tulpen, weißen Narzissen und gelben Forsythien. Nebenan auf Wolframs Seite sah man nur Gestrüpp, Brennnesseln und die braunen, abgestorbenen Zweige einer Eibe. Ein Eichhörnchen verließ gerade eine der Tannen und sprang ohne Scheu auf den Kirschbaum in unserer Nähe. Die fremde Frau folgte meinen Blicken und meinte: »Von rechts nach links, Glück bringts!« Im Übrigen sei es ein Jammer, wie dieses ehemals schön bepflanzte Grundstück verwildert sei.
»Früher hatte Bernadette Kempner Freude am Garten ihres Elternhauses. Aber in den letzten Jahren war ihr die Arbeit über den Kopf gewachsen, sie hatte stark zugenommen und war sehr schwerfällig geworden«, erzählte sie und pflückte großzügig die einzige rosa Hyazinthe ab. »Eigentlich hatte sie vor, einen Gärtner einzustellen, aber davon wollte der Herr Gemahl nichts wissen. Herr Kempner ist ja der reinste Bücherwurm, man hat ihn fast nie im Grünen entdeckt. Außerdem hatte ich schon längst den Verdacht, dass die Haushaltshilfe das sinkende Schiff verlassen wollte. Ach, es ist trostlos!«
»Wohnen Sie schon lange hier?«, fragte ich.
Ja, sie sei mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern vor Jahrzehnten hergezogen. »Damals lebten lauter junge Familien in unserer Straße, die Kinder spielten und tobten durch die Gärten, die Eltern freundeten sich an und grillten an warmen Sommertagen gemeinsam. Das Haus Nummer neunzehn ist das größte weit und breit, alle anderen – wie auch unseres – sind für nur eine Familie gedacht. Ich glaube, die Kempners waren die Einzigen ohne Nachwuchs; wir haben nie erfahren, warum. Vielleicht war ihre Kinderlosigkeit nicht ganz freiwillig, und sie haben sich abgesondert, weil sie das fröhliche Treiben nicht mit ansehen mochten. Inzwischen sind die meisten Anwohner der Biberstraße alt geworden, bekommen aber manchmal Besuch von Kindern und Enkeln. Einige müssen wohl bald in ein Altersheim übersiedeln, dann wird sich nach und nach eine jüngere Generation hier niederlassen.«
Ich nahm den kunterbunten Strauß entgegen. Würden Judith und ich Bäume fällen und mit der Sense mähen können? Wahrscheinlich würde sie wieder ihren Cord herbeizitieren, kein angenehmer Gedanke. Hoffentlich konnten wir recht bald auf Bernadettes Ersparnisse zurückgreifen und einen Profi fürs Grobe anstellen.
»Grüßen Sie Herrn Kempner, aber sagen Sie bitte nicht das Wort herzlich «, sagte die Nachbarin, die sich zum Abschied noch als »Frau Altmann« vorstellte.
Wolfram besah sich den Strauß und sagte: »Der hätte Bernadette gefallen!«
Als er hörte, von wem er stammte, runzelte er die Stirn. »Eine Klatschbase, vor der musst du dich in Acht nehmen«, meinte er. »Die Altmann wollte unsere Maria wiederholt in die Zange nehmen. Am besten man grüßt höflich und verzieht sich schleunigst. Wieso warst du überhaupt auf der Straße?«
»Zufällig kamen wir fast gleichzeitig auf die Idee, die Mülltonne rauszustellen…«
»Du kannst es nicht wissen, aber das war kein Zufall! Die Altmann lauert Tag und Nacht hinter der Gardine. Kaum sah sie Bernadette oder Maria aus dem Haus kommen, dann war sie zufällig auch schon vor der Tür. Die will ihre große Nase überall hineinstecken. Also tu mir die Liebe, und lass dich nicht aushorchen!«
Ich beruhigte ihn: Ich hätte mit Frau Altmann keine drei Worte gewechselt, und dass Wolfram krank war, wussten die Nachbarn doch schon längst. Im Grunde gab es gar keine Geheimnisse, die ich verraten konnte. Frau Altmann hatte auf mich keinen negativen Eindruck gemacht, immerhin hatte sie ihre schönsten Blumen einem mürrischen Einzelgänger geopfert. Ich hatte mir immer viel auf meine Menschenkenntnis eingebildet, die ich durch jahrelangen Publikumsverkehr in einer öffentlichen Bibliothek erworben hatte. Doch man konnte sich täuschen, auch dem Kollegen Wolfram
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