Hab und Gier (German Edition)
abzulenken und da ich doch nicht schlafen konnte, nahm ich einen der vielen Gedichtbände zur Hand. Einen Spruch hatte Wolfram angestrichen:
Und all das Geld und all das Gut
gewährt zwar viele Sachen;
Gesundheit, Schlaf und guten Mut
kann’s aber doch nicht machen.
Lange dachte ich über die weisen Worte von Matthias Claudius nach. Wie gern hätte ich jetzt mit Wolfram auf dem Sofa gesessen und über den Sinn des Lebens diskutiert, doch irgendwann bin ich dann wohl doch eingenickt.
Jählings und unsanft wurde ich durch ein grässliches Schnauben aus dem Tiefschlaf gerissen, fuhr hoch und blökte los wie ein angestochenes Kalb. Dies hier war schlimmer als ein Alptraum, denn direkt über mich beugte sich Dracula und fletschte seine Reißzähne.
Zum Glück zog Judith sofort die Maske herunter und krümmte sich vor Lachen. Doch als mein hysterisches Gewinsel nicht aufhören wollte, bat sie mit schlechtem Gewissen um Entschuldigung.
»Ich wollte dich wirklich nicht erschrecken, nach all der Tristesse hat mich der Teufel geritten. Ich habe einfach mal alle wölfischen Verkleidungen durchprobiert. Findest du nicht auch, dass ich mich als Vampir besonders gut mache?«
»Du kannst mich mal«, sagte ich und musste lachen, genauso stoßweise und schrill, wie ich zuvor geschluchzt hatte.
Später saßen wir friedlich in der Küche, aßen Tomatensalat und schmierten uns Leberwurstbrote, denn zum Kochen hatten wir beide keine Lust. Judith holte eine Flasche Wein aus dem Keller, zum Glück reichte Wolframs Vorrat noch für mehrere Monate. Wir sprachen ausgiebig über den Vorfall auf dem Friedhof und die neuen Informationen über die Qualle. Schließlich fiel mir noch das Problem mit der Erbschaftssteuer ein.
»Daran habe ich auch schon gedacht«, meinte Judith. »Um die Steuer zu bezahlen, müssen wir schlimmstenfalls das Haus verkaufen – aber vielleicht hat Wolfram ja noch einen Haufen Kohle gebunkert. Du solltest morgen auf jeden Fall seinen Papierkram durchforsten, ich habe keine Zeit.«
»Die Steuer ist das eine Problem«, meinte ich. »Das zweite ist die Giftqualle, die das Testament anfechten wird.«
»Soll sie ruhig versuchen«, sagte Judith. »Es gibt keine bessere Fälscherin als dich.«
»Nicht ich bin die Krimi-Expertin, sondern du«, sagte ich. »Du müsstest eigentlich wissen, dass ein Profi selbst die vorzüglichste Fälschung entlarven kann.«
»Erst muss der Profi überhaupt mal angefordert werden«, entgegnete Judith. »Die Qualle wird es sich dreimal überlegen, ob sie klagen soll. Nach allem, was Frau Altmann erzählt hat, wird sie selbst kein Unschuldslämmchen sein. Wie hieß noch mal ihr seltsames Projekt?«
»Memento Maori«, sagte ich.
Judith stand etwas träge auf, holte ihren Laptop und gab das Stichwort ein. Doch Google befahl unbeirrt und gnadenlos: Suchen Sie stattdessen nach Memento Mori! Auch ihre erweiterte Recherche blieb erfolglos.
»Ich schaue jetzt mal bei CharityWatch nach«, meinte sie und las mir vor, dass in Deutschland Milliarden für wohltätige Zwecke gespendet würden, aber dass sich leider auch viele kriminelle Hilfsorganisationen unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit ganz persönlich bereicherten.
»Ja, wenn es ein SOS -Kinderdorf in Neuseeland wäre«, überlegte ich, »dann hätte ich weniger Bedenken. Aber ein Internat oder auch nur einen Verein scheint es unter diesem Namen gar nicht zu geben. Mit Sicherheit hat die gute Sabrina Rössling ihre Tante nach Strich und Faden übers Ohr gehauen.«
»Wir müssen die Qualle überlisten, bevor es zu spät ist. Angriff ist immer noch die beste Verteidigung«, behauptete Judith, die sprachliche Gemeinplätze liebte.
»Vielleicht ein Erpresserbrief? Eine anonyme Anzeige?« Bei meinen kriminellen Vorschlägen hatte ich plötzlich das Gefühl, dass wir – zwei gutbürgerliche Bibliothekarinnen – zu einem perfekten Gangstergespann mutiert waren. Ich hielt das einerseits für absolut verwerflich, da ich doch mein Leben lang eine gesetzestreue und hochmoralische Frau gewesen war, fand aber andererseits Gefallen an der neuen, atemberaubenden Entwicklung, die viel spannender war als ein Tatort im Fernsehen.
Judith war offenbar noch nie so bieder gewesen wie ich. Fast schämte ich mich ein wenig für meine ständigen Skrupel und meine spießige Sichtweise von Gut und Böse. Schon immer hatte ich Judith gerne zur Freundin gehabt, weil ich ihre Kühnheit und Entschlossenheit bewunderte.
Judith riss mich aus meinen
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