Hab und Gier (German Edition)
hundertprozentig vertrauen konnte. Was, wenn sie nach wie vor mit Cord unter einer Decke steckte?
20
Der Erbschein
Manchmal muss man zugeben, dass man sich geirrt hat. Die beiden Kinder, die sich nun täglich in meinem sommerlichen Garten tummelten, waren eigentlich gar nicht so störend, wie ich vermutet hatte. Ja, ich ertappte mich dabei, dass ich in einen träumerischen, fast meditativen Zustand versank, wenn ich ihnen von der Terrasse aus zusah. Wie beim Beobachten eines jungen Vogels, der bettelnd seinen Eltern nachhüpft, oder eines Eichhörnchens, das durch die Äste turnt, ist der Anblick spielender Kinder ein reines Glück. Ihr Eifer und ihre natürliche Unschuld können selbst einem abgebrühten Erwachsenen ein Stückchen Paradies vorgaukeln.
Die Zwillinge bauten Ameisenhäuser aus Erde und Steinen, legten einen primitiven Garten an, suchten Tannenzapfen, Gänseblümchen und Schneckenhäuser zur Verzierung und schufen sich eine eigene Welt. Industrielle Spielsachen schienen sie nicht zu entbehren, es genügte ihnen, wenn sie Rinde, Zweige, rostigen Draht, ein Seil, alte Blumentöpfe oder eine Gießkanne fanden. Der Hund lag meistens in ihrer Nähe und ließ sie nicht aus den Augen; sobald gebuddelt oder mit Wasser gematscht wurde, schaltete er sich hocherfreut ein.
Cord hatte seinen Kindern anscheinend eingeschärft, mich nicht zu belästigen, und das taten sie auch nicht. Hin und wieder, wenn sie eine Spur lauter geworden waren, warfen sie mir aus sicherer Entfernung einen forschenden Blick zu und sprachen eine Weile nur im Flüsterton miteinander. Irgendwann hatte ich es satt, als alte Hexe im Hintergrund zu lauern, und rief die beiden herbei. Ob sie Lust auf ein Eis hätten? Sie reagierten ebenso überrascht wie begeistert, rannten aber erst einmal davon, um ihren Vater um Erlaubnis zu fragen. Cord war nicht aufzufinden, also setzten sie sich zu mir, baumelten mit den Beinen, schleckten Eis und wurden langsam zutraulicher. Sie hießen Lilli und Paul, waren sieben Jahre alt und kamen nach den großen Ferien in die zweite Klasse.
»Freut ihr euch auf die Schule?«, fragte ich, weil ich mich mit passendem Gesprächsstoff nicht auskannte.
Die beiden bejahten. »Am liebsten mögen wir die große Pause«, sagte Paul. »Und Vorlesen«, ergänzte Lilli und nach einer Weile: »Wie heißt du eigentlich?«
»Ihr könnt mich Frau Pinter oder auch Karla nennen«, sagte ich zögernd, denn ich glaubte nicht, dass man noch wie in meiner Kindheit fremde Leute mit Onkel und Tante ansprach.
Später fand ich in Wolframs – oder eher Bernadettes – Sammlung eine ganze Reihe klassischer Kinderbücher. Von da an las ich den Zwillingen unermüdlich vor. Erstaunlicherweise wurde meine neuentdeckte Fähigkeit, mit kleinen Menschen zu kommunizieren, zu einem Höhepunkt in meinem Alltag. Hatte ich bisher nur abends eine warme Mahlzeit gekocht, so tat ich es jetzt auch mittags, wobei die jungen Gäste und auch Cord mit einer Portion Spaghetti, etwas Parmesan und einem Klecks Ketchup bereits glücklich zu machen waren. Judith erfuhr nichts von unserer heimlichen Verbrüderung; wenn sie nach Hause kam, waren die Zwillinge bereits bei ihrer Mutter. Cord holte seine Kinder mit meinem Wagen ab und brachte sie am Nachmittag zurück, am Wochenende war Pause. Die bewusste Natalie tauchte nie bei uns auf; für einen gemeinsamen Urlaub von Mutter und Kindern fehlte es offenbar an Geld. Die Kleinen erzählten, dass alle ihre Freunde und Klassenkameraden verreist seien. »Aber wir haben es besser, weil wir in eurem Garten spielen dürfen«, sagte Lilli, und ich war gerührt.
Beinahe war ich ein wenig traurig, als die Ferien zu Ende waren. Man kann sich schnell an nette Kinder gewöhnen, fast bedauerte ich, erst so spät im Leben auf den Geschmack gekommen zu sein. Auch die sonnigen Tage waren plötzlich vorbei, es regnete in Strömen, der Herbst begann mit heftigen Stürmen, und ich konnte nicht mehr auf meinem geliebten Terrassenplatz frühstücken. Cord schlief zwar weiterhin in Wolframs Bett, aber tagsüber blieb er meistens unsichtbar – wahrscheinlich hielt er sich in Judiths Wohnung auf. Das einzige Zusammentreffen von uns drei Hausbewohnern fand beim gemeinsamen Abendessen statt, und manchmal fühlte ich mich etwas einsam. Bellablock leistete mir zwar oft Gesellschaft, aber vorlesen konnte ich der Hündin nicht.
Glücklicherweise kam nach wochenlangen grauen Tagen plötzlich wieder Schwung in mein Leben. Am 11. November
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