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Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt

Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt

Titel: Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Topolino, das, auf abfallender Strecke über 50 Kilometer machte. In München traf ich Freunde von der » Berliner Illustrierten«, alles Freunde und Gleichgesonnene. Die Stadt wimmelte von Nichtbayern, der Himmel war bedeckt, wir saßen auf der Pressetribüne, vis à vis den » Mächtigen«. Zentner, einer von der »Berliner Illustrierten«, der mit dem frechsten Maul, lieh mir seinen » Feldstecher«, den ich nicht mehr zurückgab, mußte ich doch » meinen Führer« genau beobachten. Ich bin weder Menschenkenner, noch verstehe ich viel von dem, was man heute Körpersprache nennt. Aber was ich sah: keine echte Bewegung, Starre, wache Kälte. Seine Nebenfiguren: Ciano, Schwiegersohn Mussolinis, den Obersten von München, ein übler Wagner, den dicken Arbeitsminister Lay oder Ley mit seiner jungen, überblonden Frau und weitere Prominenz.
    Zentner flüsterte mir Wissenswertes über die Hauptperson, ich mußte lachen. Prompt Verweis durch einen Aufpasser.
    Der Zug begann, Fahnen, Samt, Brokat, Wagen und Gesänge und viel junges Edelgewächs. Aber Petrus hatte kein Erbarmen. So ein Münchner Sommergewitter hat es in sich. Bald flatterten die Fahnen nicht mehr, die Edeltypen schleiften die regenschweren Textilien hinter sich her, die Griechinnen, Walküren, Germaninnen lösten sich auf und trugen die Goldsandalen in der Hand, die Rösser trieften, und der Baldachin über den Spitzen der Gesellschaft sammelte Wasser. Ein intelligenter junger Mann stupste den tröpfelnden Baldachin, und das ganze Regenwasser ergoß sich über die Elite. Gauleiter Wagner brüllte den Stupser an, Hitler, weltkriegserprobt, schüttelte sich kurz, und der Festzug löste sich programmiert auf. Das war das letzte Mal, daß die » geartete« Kunst sich als solche dargestellt hatte, während sich die » entartetete« überall in Europa mit großen Verkaufserfolgen davonmachte. Zu unserem Verlust und Schaden.

6
    Dozentin, 1920
    Ja, also, es ist nicht sehr sensationell, es ist folgendes, ich war vielleicht 15 oder 16 Jahre alt, 1936 oder 37 muß das gewesen sein. Mein Vater war Lehrer, war Studienrat in einem Gymnasium, und durch die Straße, in der die Schule war, sollte also Hitler kommen, und kam dann auch. Und meine Eltern waren an sich sehr gegen Hitler, schon deshalb, weil ich eine jüdische Großmutter hatte und weil mein Vater Demokrat war, also auch in der Demokratischen Partei gewesen ist und immer so auf dem Aussterbeetat stand, wir hatten also immer Angst, er flöge wieder raus, und trotzdem sagten sie: » Man muß ihn doch mal seh’n«, und zwar deshalb, er sollte doch so etwas Faszinierendes haben.
    Und nun gingen wir also hin, die ganze Familie, glaub’ ich, ich hatte noch zwei Geschwister, und die Eltern blieben in der Schule am Fenster, und wir Kinder gingen runter auf die Straße, und in dem Moment, wo er nun kam, waren aber gar nicht so sehr viel Menschen, wie wir erwartet hatten, da, und der Beifall- oder Heilruf war also so dünn, daß ich immer das Gefühl hatte, mußt du jetzt eigentlich hier schreien? Aber das kannst du doch nicht, wir sind ja nicht für Hitler. Dieses Gefühl ist mir noch ganz in Erinnerung. Und dann haben wir ihm also in die blauen Augen gesehen, und ich war ziemlich enttäuscht, weil ich nicht viel empfand, aber ich hab’ das damals auf mich geschoben, hab’ geglaubt, daß mir also der richtige Rausch eigentlich abginge.
    Er fuhr im Auto, stand natürlich und sah sehr ernst aus, und dann wurde gesagt: Leipzig hätte ihn enttäuscht. Nun behauptete das späterhin ja jede Stadt von sich, jedenfalls, der Beifall war nicht sehr groß. Vielleicht fand ich’s doch ’n bißchen faszinierend damals, das ist schwer zu sagen. Daß er blaue Augen hatte, das wußte ich ja schon vorher. Ich stand auf dem Bürgersteig, und er fuhr in der gar nicht sehr breiten Straße da durch. Aber eigentlich dieses Tamtam vorher, das war eigentlich mehr als die eigentliche Begegnung.
    Produktionschef, 1923
    1935/36.– Potsdam, Reiter IV : das traditionelle Regiment der Garde du Corps. Kesselpauken mit wehenden Behängen. Satteldecken. Der letzte Rest des kaiserlichen Potsdam. Das Auswehen.
    Das war nur schwarz-weiß-rot, nicht Hakenkreuz. Hakenkreuz? Unmöglich, fürchterlich, grauenvoll. Das waren doch Proleten.
    Literaturhistoriker, 1910
    1935 bzw. Frühjahr 1936: Schauplatz der Hörsaal der Universität im Gebäudeflügel gegenüber dem Opernplatz. Nach einer Vorlesung des Philosophen Nikolai Hartmann über die

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