Habgier: Roman (German Edition)
schätzte. Er trug ein weißes Hemd, eine schwarze lange Hose und billige Schuhe. Der Knoten seiner rot-grau gestreiften Krawatte war gelockert.
»Mr. Delgado?«, fragte Marge.
»Rusty reicht«, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen. »Tut mir leid, aber ich hatte Ihren Namen nicht verstanden.«
»Marge Dunn.« Sie schüttelte seine Hand. »Danke, dass Sie ohne Vorankündigung für mich Zeit haben.«
»Kein Problem, worum geht’s denn?«
»Es ist kompliziert«, sagte Marge, »können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«
»Na klar...« Delgados Stimme näherte sich einer für Männer ungewöhnlich hohen Tonlage an. Er führte sie ins Herz der Redaktion. Wenn Marge ein Gewimmel von Volontären, Stringern und Kommandos brüllenden Reportern erwartet hatte, dann wurde sie gründlich enttäuscht. Die ganze Etage bestand aus einem Großraumbüro, und es war so still wie in einer Bibliothek. Von der Decke hingen Hinweisschilder – GESUNDHEIT, IMMOBILIEN, KALENDER, METRO, HOME: allesamt Rubriken der L.A. Times .
Sie folgte Delgado durch einen Flur, vorbei an Wänden mit berühmten Fotos und preisgekrönten Artikeln und einem Vitrinenschrank voller altgedienter Kameras, in ein weiteres Großraumbüro. Über einem der Verschläge hing ein an einem Mast befestigtes Skelett, das ein Bananenröckchen und einen BH aus Kokosnussschalen trug.
»Abteilung Todesanzeigen«, verkündete Delgado.
»Hier ist niemand«, sagte Marge grinsend, »die Leute sterben wohl dafür, hier rauszukommen.«
Delgado grinste ebenfalls. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Marge setzte zu einer langen Vorrede an, um den jungen Mann mit diesem Winkelzug davon abzuhalten, zu viele Fragen zu stellen.
»Ich arbeite im Auftrag der Ace Insurance Company, die wiederum andere, bekanntere Versicherungen unter Vertrag hat. Man hat mich beauftragt, die erste Liste der Opfer des West Air Fluges 1324, die Ihrer Zeitung zugespielt wurde, mit der letzten Liste der Toten zu vergleichen. Tricia Woodard schrieb die Artikel zu dem Absturz, und ich hatte gehofft, sie könnte mir weiterhelfen.«
»Tricia ist zurzeit unterwegs«, antwortete Delgado und schien verblüfft. »Gibt es denn nicht nur eine einzige Liste?«
Marge setzte ein mildes Lächeln auf. »Genau das möchte ich herausfinden. Man sagte mir, die Liste sei während der ersten Tage nach dem Crash mehrmals aktualisiert worden, mit weiteren Namen.«
»Verzeihen Sie meine Unwissenheit, aber wer sollte da Namen hinzufügen? Es gibt doch eine Passagierliste mit allen Personen an Bord?«
»Da sind nur die aufgeführt, die ein Ticket gekauft haben, aber nicht die Kinder und Kleinkinder...«
»Ja, natürlich. Und Sie vergleichen jetzt die Namen, weil...«
»Reine Routine, nach jedem Absturz.« Marge wusste nicht, ob das stimmte, aber sie vermutete es. »Bevor die Versicherungen zahlen, wollen sie sichergehen, dass alle, die auf der Liste stehen, tatsächlich gestorben sind. Manchmal, besonders bei kleinen Kindern, nun ja, ich will nicht zu sehr ins Detail gehen... Sagen wir es mal so: Manchmal ist die Identifizierung der Leichen unmöglich, oder man findet gar keinen Leichnam. Sogar von Erwachsenen. Und manchmal wollen die Leute betrügen.«
Jetzt war Delgados Neugier endgültig angestachelt. Er roch eine Story. »Wie denn das?«
»Nun, das läuft so: Jemand ruft an und sagt, Ms. Soundso hatte eine kleine Tochter, die bei dem Absturz ums Leben kam. In neunundneunzig Prozent der Fälle stimmt das. Aber alle Jubeljahre einmal erfindet ein Psychopath die Tochter von Ms. Soundso, um mehr Geld von der Versicherung zu kassieren – oder das kleine Mädchen existiert wirklich und war zum Glück bei den Großeltern und nicht im Flugzeug. Wir müssen diese Dinge genau abchecken.«
»Es gibt Leute, die behaupten tatsächlich, dass Kinder tot sind, obwohl es nicht stimmt?«
»Mr. Delgado, wenn es um Versicherungen geht, haben wir schon alles erlebt.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Haben Sie die Liste, die West Air Ihnen gegeben hat?«
»Natürlich, und ich kann sie Ihnen auch gleich holen. Das nächste Mal müssen Sie dafür nur ins Archiv der Zeitung gehen.«
»Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Ich suche nicht nach der ersten Liste, die in der Zeitung abgedruckt wurde. Ich suche nach der ersten Liste, die West Air Ihnen durchgegeben hat. Nur um zu vergleichen, ob es da Unterschiede gibt.«
»Und warum fragen Sie nicht West Air danach?«
»Hab ich«, log Marge, »aber Ace Insurance
Weitere Kostenlose Bücher