Habgier: Roman (German Edition)
erkennen, wo die Römer die Originalsteine des Zweiten Tempels entfernt haben. Sie haben fast alles zerschlagen und den Rest verbrannt. Und trotzdem tauchen immer wieder eine Menge gut erhaltener Relikte auf.«
»Jerusalem ist erheblich älter als Canoga Park.«
»Aber Los Angeles hat seine eigenen Relikte, zum Beispiel die Teergruben von La Brea... und das ganze andere Zeug, was man von den Chumash-Indianern ausgegraben hat.«
»Wenn ich einen Säbelzahntiger entdecke, räume ich meine Niederlage ein«, antwortete Decker.
»Jetzt bist du wieder sarkastisch.«
Decker küsste im Gegenzug die Hand seiner Frau. »Liebling, ich verstehe schon, was du sagst. Und ich weiß, die Geschichte lebt in Jerusalem weiter, trotz all der Zerstörung. Aber der Zweite Tempel war um einiges größer als das Seacrest-Apartmenthaus. Es ist also nur logisch, dass mehr davon übrig geblieben ist.«
»Na gut, das stimmt«, gab Rina zu, »aber nicht nur große Gebäude erzählen eine Geschichte. Nimm zum Beispiel das Verbrannte Haus in Jerusalem. Anfang der Siebzigerjahre haben Archäologen ein römisches Haus aus der Zeit des Zweiten Tempels ausgegraben, das abgebrannt war. Doch vieles wurde durch die Asche konserviert, nicht nur die Außenmauern, sondern auch Artefakte, Peter. Und dieses Haus war nicht annähernd so groß wie dein Apartmenthaus. Was sagst du jetzt dazu?«
Decker strich sich über seinen Bart. »Volltreffer.«
Sie hatte recht. Er arbeitete sich oft an einem Tatort durch Schutt, um den einen entscheidenden goldenen Beweis zu herauszupicken. Im Gespräch mit Rina wurde ihm bewusst, dass er bei seinen bisherigen Ermittlungen einen wichtigen Punkt vernachlässigt hatte. Keiner von ihnen war zum Tatort gefahren – an den Ort, an dem man Jane Doe gefunden hatte -, um in persona nach Beweisen zu suchen.
»Woran denkst du gerade?«, fragte Rina ihn.
»Ich denke, du bist eine sehr kluge Frau. Es wird Zeit, dass ich einen Tatort aufsuche.«
19
Manchmal geht den Sonnenaufgängen in Los Angeles ein beeindruckendes Farbspektakel aus strahlendem Orange, herrschaftlichem Purpur und schockierendem Pink voraus. Und manchmal bricht nur ein fader, abgestandener grauer Lichtschimmer durch einen bewölkten Himmel. So wie heute Morgen: Der Juni-Dunst hatte sich mit einer Staubschicht über den Talkessel gelegt, und es war frostig und feucht. Genau das Wetter, das die Einheimischen als eklig bezeichneten.
Das trostlose Areal, auf das Decker starrte, machte die Sache auch nicht besser – ein zwei Meter hoher Zaun aus Stahl, der eine Grube absicherte, als handele es sich um einen Zookäfig, der gerade renoviert wird. Im Inneren des Bereichs standen ein paar Bagger und Fässer mit biologischem Sondermüll Unheil verkündend herum. Gelbes Sicherheitsband flatterte im Wind, der geschwängert war vom Gestank von Verkohltem. Decker zog den Reißverschluss seiner Bomberjacke hoch und nahm einen Schluck Kaffee aus seinem Thermobecher. Dann blickte er auf die Uhr: Es war kurz vor sieben. Das Team würde nicht vor zehn Uhr da sein, und die einzige Person, die er erreicht hatte – eine Angestellte der nationalen Flugsicherheitsbehörde NTSB namens Catalina Melendez -, hatte zwei Kinder im schulpflichtigen Alter und würde nicht vor acht Uhr hier erscheinen.
Doch Decker störte das nicht, denn so blieb ihm Zeit, sich umzusehen und das auf sich wirken zu lassen, was er versäumt hatte. Er verschloss seinen Thermobecher und stellte ihn auf dem Bürgersteig ab. Dann griff er nach dem kalten Metall des Behelfszauns und spähte durch das Gitter ins Innere.
Wie es wohl gewesen war, in diesem Inferno eingeschlossen zu sein?
Während er über diese Trostlosigkeit sinnierte, nahm er plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. »Hey!«, rief er aus. »Polizei!«
Eine schemenhafte Gestalt drehte ab, kletterte über den Zaun und ließ sich auf der entgegengesetzten Seite von Deckers Standpunkt zu Boden fallen. Innerhalb weniger Momente war nichts mehr von ihr zu sehen. Eine Verfolgung wäre sinnlos, also ließ Decker es gleich bleiben. Vielleicht war es nur ein Obdachloser, der dort sein Lager aufgeschlagen hatte, oder – sehr viel wahrscheinlicher – einer der plündernden Aasgeier, die Münzen suchten. Unfallorte wurden oft nach Wertsachen durchforstet.
Decker notierte kurz ein paar Details, holte dann eine Kamera aus seiner Jackentasche und begann zu fotografieren. Bis er die detaillierten Fotos im Kasten hatte, war es schon fast acht
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