Habiru
diesen Akt stellvertretend für den ewigen Zyklus von Mutter Natur einmal im Jahr durchführen wollten, meldeten sich freiwillig und dann wurde von den Sippen eines ausgewählt, welches diese Ehre hatte. Und das geschah nicht auf einem Turm, sondern auf der Insel im See, unter dem Granatapfelbaum.
Irgendetwas hatte dazu geführt, dass diese alte Form der Heiligen Hochzeit verändert wurde und wirklich zur Prostitution wurde. Es war unglaublich. Mehr und mehr begriff sie die Dimension der Veränderung. Aber sie schwieg.
Sofort mit den Klingeln der Schulglocke brach Unruhe aus, alle packten ihre Sachen und verließen in Windeseile die Klasse. Sarah tat am Anfang so, als ob sie auch gehen wollte, sie packte ihre Sachen zusammen, damit es nicht auffiel, dass sie noch blieb. Sie machte aber extra langsam, und als sie fertig war, waren Frau Arnold und sie alleine im Zimmer. Sie ging zur Tür, zog sie heran und setzte sich ihren Tisch. Dazu zog sie einen Stuhl an die Sarah
gegenüberliegende Seite heran.
»Was hast du denn? Du bist immer noch bleich.«
Sarah sah sie an. Eigentlich wusste sie schon, was sie fragen wollte. Nach dem Blick in das zwar fragende, aber freundliche Gesicht von Frau Arnold sagte sie: »Es geht schon. Etwas übel ist mir immer noch.«
Eine starke Untertreibung. Frau Arnold zog eine Augenbraue hoch.
»Es ist wegen dieser Geschichte. Sie hat mich so mitgenommen.«
»Bisher ist das in meinem Unterricht noch nie passiert. Was hat dich denn so erschreckt, dass dir sogar davon schlecht geworden ist?«
Sarah konnte und wollte nicht alles von ihrer Vision erzählen. Sie wusste auch nicht recht, wie und ob sie Frau Arnold erklären konnte, was sie so bewegte. Sie versuchte es: »Da stand: Die Menschen brachen aus dem Osten auf, und siedelten dann woanders an. Woher kamen diese Menschen, warum brachen sie auf, und wo genau siedelten sie sich an?«
Frau Arnold lehnte sich etwas zurück. »Das ist kein Geheimnis. Es gab vor ein paar Jahrtausenden große Völkerwanderungen. Was diese genau auslöste, weiß ich jetzt nicht. Aber ich vermute mal, es gab Katastrophen. Menschen wandern ja nicht freiwillig eine lange Strecke mit unbekanntem Ziel. Vielleicht Dürre und Hungersnöte.«
Das kam Sarah bekannt vor. »Und sie zogen immer nach Westen?«
»Das gilt nur für unsere Sicht. Es gab auch genauso die Wanderung nach Osten, ins heutige China oder nach Indien beispielsweise. Man findet tatsächlich überall die Spuren dieser Wanderung. Wie gesagt, vor allem in der Sprache. Aber auch woanders. In der Bibel steht ja auch etwas von dem »gelobtem Land«, welches man sich erhoffte.«
»Und die Geschichte des Turmbaus ist kein Mythos oder so was, oder?«
»Nein. Die Fundamente des Turmes wurden wirklich vom Archäologen Robert Koldeway 1909 gefunden.«
»Ist denn die Bibel immer so zuverlässig, wenn es um historische Dinge geht?« »Bis vor ein paar Jahren hättest du diese Frage nicht einmal stellen dürfen, denn in der Bibel steht das Wort Gottes, und schon die Infragestellung war lange Zeit Grund für Strafe.«
Sarah sagte nur »Oh.«
Frau Arnold schmunzelte. »In der Bibel steht sehr viel Wahres, und sie beinhaltet sehr viel Weisheit. Aber du solltest dich selbst fragen: Für wie glaubwürdig hältst du einen Text, der über viele Jahrhunderte ausschließlich von einer kleinen männlichen Priesterkaste gelesen und übersetzt werden konnte, und in der jedes 5. Wort »Herr« ist - auch wenn es Gott bedeuten soll? Die Frauen kommen in der Bibel doch maximal am Rande vor, und das meist in völlig verklärten, überspitzten Rollen, so in etwa wie Heilige und Hure oder Mutter und Jungfrau in einer Person.«
Sarah interessierte das. »Gibt es eigentlich so etwas wie Bibelforschung?«
»In der Tat. Bis vor wenigen Jahren durfte exklusiv nur ein vom Papst selbst ernannter Personenkreis Bibelforschung betreiben. In Fachkreisen nennt man diese übrigens Exegese. Heute gibt es viele, die sich darin betreiben, vor allen Frauen, weil diese ja sich auch dort benachteiligt sehen. Es gibt sogar eine neue Fachrichtung der Forschung: die sogenannte feminine Exegese.«
Es war faszinierend, auch wenn Sarah nicht recht wusste, was das für sie zu bedeuten hatte.
»Und nun raus mit der Sprache. Was war es nun, was dich so getroffen hat?« Sarah war verlegen. Sie wollte Frau Arnold nicht verletzen - und das müsste sie, wenn sie alles erzählen würde. Schließlich war sie tief gläubig. Dann brachte sie doch eine kurze
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