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Hades

Hades

Titel: Hades Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Adornetto
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vorsichtig mit den Fingern darüber und atmete ihren Regenduft ein. Dann legte er sie zwischen ein gefaltetes T-Shirt in seiner Sporttasche, überlegte es sich wieder anders, nahm sie heraus und legte sie zurück auf die ledergebundene Bibel auf seinem Nachttisch. Als ich mich vor ihn hinkniete, merkte ich, dass er zitterte, als würde er frieren, und dass Gänsehaut seinen Arm überzog. Trotzdem rührte er sich nicht.
    «Xavier?» Obwohl er mich nicht hören konnte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck, er wirkte plötzlich aufmerksam. Spürte er meine Gegenwart? Und spürte er auch, wie falsch alles lief? Er beugte sich vor, als versuchte er ein Geräusch einzufangen. Ich überlegte kurz, wieder auf die gleiche Weise mit ihm in Kontakt zu treten wie an jenem Tag am Strand, aber irgendwie erschien es mir nicht mehr richtig. Außerdem war ich mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde, so aufgewühlt, wie ich war.
    «Hallo, Xavier», begann ich zögernd. «Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden. Es ist etwas geschehen, weswegen ich vermutlich nicht mehr in der Lage sein werde, zu kommen und dich zu besuchen. Darum bin ich heute ein letztes Mal hier. Ich möchte dich bitten, dich nicht mehr um mich zu sorgen. Du siehst so müde aus. Fahr nicht nach Tennessee – es gibt jetzt keinen Grund mehr dafür. Vergiss, dass du mich je getroffen hast. Ich wünsche dir ein großartiges Leben. Konzentrier dich auf die Zukunft und lass die Vergangenheit ruhen. Ich möchte keine einzige Sekunde unserer gemeinsamen Zeit missen wollen, aber …»
    «Beth», sagte Xavier plötzlich und unterbrach meinen Gedankenfluss. «Ich weiß, dass du hier bist. Ich kann dich spüren. Was versuchst du mir zu sagen?» Er wartete einen Moment und fügte dann hinzu: «Kannst du mir wieder ein Zeichen geben, so wie letztes Mal?»
    Als ich sah, wie hoffnungsvoll er war, kam mir eine Idee. Vielleicht gab es einen Weg, Xavier zu sagen, was ich wollte, ohne dass dafür Worte nötig waren. Das Zimmer lag im Halbdunkel. Ich ballte all meine Energie zusammen und versuchte die Vorhänge zu öffnen. Xavier blinzelte, als der Raum plötzlich mit Licht geflutet wurde. «Gut gemacht, Beth», sagte er. Ich glitt näher an das Fenster heran und pustete so heftig, bis das Glas beschlug. Dann streckte ich einen meiner geisterhaften Finger aus, malte damit ein Herz auf die Scheibe und schrieb «X+B» hinein.
    Mehr nicht.
    Xavier lächelte. «Ich liebe dich auch», sagte er. «Für immer.»
    Die Tränen liefen mir hinab, flossen in großen Sturzbächen und ließen sich nicht aufhalten. Wenn ich gewusst hätte, dass ich ihn im nächsten Leben wiedersehen würde, hätte ich all das ertragen können. Aber ich kehrte nicht in den Himmel zurück. Genau genommen hatte ich keine Ahnung, wo ich hinging. Vermutlich erwartete mich eine Ewigkeit des Nichts.
    «Du musst aufhören mich zu lieben», sagte ich schluchzend. Alles an mir war von der Trauer erfüllt, ihn aufgeben zu müssen. «Du musst weitermachen. Wenn es nach meinem Tod einen Weg zurück gibt, werde ich ihn finden. Aber nur, um nach dir zu sehen und das tolle Leben zu bewundern, das du führen wirst.»
    «Hier bist du ja!» Eine Stimme ließ mich zusammenzucken. Es war Molly, die ungebeten ins Zimmer platzte. «Gabriel und Ivy warten auf dich. Sie wollen los. Was ist denn noch?»
    Xavier schloss schützend den Vorhang über meiner Zeichnung.
    «Ich komme gleich», sagte er. «Ich brauche nur noch eine Minute.»
    Molly machte keine Anstalten zu gehen.
    «Können wir noch kurz reden, bevor wir aufbrechen? Ich brauche deinen Rat.»
    Xavier blickte zum Fenster, wo ich noch immer stand. Er wollte mich nicht verlassen. «Ich bin gerade beschäftigt, Molly. Hat das Zeit?»
    «Womit? In den Himmel zu starren? Nein, ich kann nicht warten. Mein Leben ist völlig aus den Fugen, und du bist der Einzige, mit dem ich darüber reden kann.»
    «Ich dachte, wir haben Streit.»
    «Man muss Brücken bauen», fauchte Molly. «Ich brauche einen Rat.»
    «Es geht um Gabriel, oder?»
    Erst jetzt bemerkte ich, dass Mollys Gesicht tränenverhangen war. Auch sie hatte geweint. Ihre Mundwinkel zuckten, und jetzt, wo Xavier das Gespräch auf meinen Bruder gebracht hatte, zuckten auch ihre Schultern.
    Sprich mit ihr, Xavier , dachte ich. Molly braucht dich, und sie ist deine Freundin. Du brauchst Freunde. Ich wusste nicht, ob Xavier meine stumme Nachricht empfangen hatte oder ob der Anblick der weinenden Molly ihn weichwerden ließ, aber

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