Hades
Nach einer Weile kehrten die Gäste zurück, tupften sich sorgsam mit der Serviette den Mund ab und aßen weiter.
«Wohin gehen die denn alle?», fragte ich Jake.
Diego antwortete an seiner Stelle. «Ins Kotzarium natürlich. So etwas haben heutzutage alle besseren Lokale.»
«Das ist ja widerlich», sagte ich und wendete den Blick ab.
Jake zuckte die Achseln. «Kulturelle Eigenheiten wirken auf Außenstehende oft widerlich. Beth, du hast ja noch gar nichts gegessen. Hat dir das Kotzarium etwa endgültig den Appetit verdorben.»
«Ich habe keinen Hunger.»
Natürlich war es reiner Trotz Jake gegenüber, dass ich nichts aß. Aber ich wusste auch, dass ich das nicht ewig durchhalten konnte. Ich wurde bereits immer dünner, und falls ich vorhatte zu überleben, musste ich irgendwann etwas zu mir nehmen. Jake runzelte missbilligend die Stirn. «Du solltest wirklich eine Kleinigkeit probieren. Bist du sicher, dass ich dich mit nichts locken kann?» Er hob einen Obstteller vom Tisch und stellte ihn vor mich hin. Die Früchte sahen prall und köstlich aus, als ob sie frisch gepflückt waren und noch der Tau an ihnen hing.
«Wie wäre es mit einer Kirsche?», fragte er und ließ sie einladend vor mir hin und her baumeln. Mir knurrte der Magen.
«Oder eine Kaki? Schon mal gegessen?» Er schnitt die Frucht auf, dass das gelbe, saftige Fleisch sichtbar wurde, löste ein kleines Stück heraus und hielt es mir hin.
Ich wollte das Gesicht abwenden, aber der Geruch war wie berauschend. Normalerweise roch Obst nicht so verführerisch, da war ich mir sicher. Der Duft nistete sich in meinem Kopf ein und verhöhnte mich. Ein kleiner Bissen konnte doch nichts ausmachen? Bei dem Gedanken verspürte ich unendliche Erleichterung. War das normal? Nein. Essen sorgte für das leibliche Wohl, war der Treibstoff des Körpers. So hatte es mir Gabriel immer wieder erklärt. Hunger hatte ich auf der Erde schon oft verspürt, aber was ich jetzt empfand, war die reinste Gier. Aber hungrig oder nicht, ich würde um keinen Preis gemeinsam mit Jake Thorn essen. Mit einer heftigen Bewegung schob ich den Obstteller von mir.
«Im letzten Moment», sagte Jake, als wollte er sich selbst trösten. «Du bist stark, Beth, aber nicht so stark, dass ich dich nicht brechen könnte.»
Als das Festessen vorbei war, wechselte die Gesellschaft in eine andere Ecke des Raums, wo sie es sich auf Kissen und Sofas vor einem offenen Kamin bequem machte. Die Stimmung schlug um, die Gäste verloren ihre Trägheit und begannen sich hungrig zu streicheln und zu liebkosen. Paare gab es dabei nicht, vielmehr pressten alle ihre Leiber aneinander, mit dem einzigen Ziel, sich zu befriedigen. Ein Mann warf Eloise lüsterne Blicke zu, worauf sie ihm als Antwort sogleich mit den Zähnen das T-Shirt herunterriss und begann seine Brust abzulecken. Als er erregt aufstöhnte, sah ich verlegen weg. Jake und ich waren die Einzigen, die noch saßen.
«Willst du nicht mitmachen?», forderte ich ihn heraus.
«Dieses ausschweifende Leben wird nach zweitausend Jahren irgendwie langweilig.»
«Und zur Abwechslung versuchst du es mit dem Zölibat?» Sarkastischer ging es nicht.
«Nein, ich will mehr.» Er bedachte mich mit einem befremdlichen Blick, der mir beinahe traurig vorkam.
«Bei mir wirst du das nicht finden», sagte ich ernst.
«Vielleicht nicht heute Abend. Aber ich hoffe, eines Tages dein Vertrauen zu gewinnen. Und ich kann es mir leisten, geduldig zu sein. Schließlich habe ich die gesamte Ewigkeit Zeit.»
Irgendwann schien meine düstere Stimmung selbst Jake zu viel zu werden, denn er gestattete mir gnädig, vorzeitig aufzubrechen, und ließ mich mit einer Limousine zum Hotel Ambrosia bringen, wo ich mich halbwegs sicher fühlte. In der Lobby wartete Tucker bereits auf mich, um mich auf mein Zimmer zu begleiten.
«Wie hältst du das aus?», wetterte ich, als wir in den Fahrstuhl stiegen. «Wie hält das irgendjemand aus? Es ist alles so fürchterlich und leer.»
Tucker warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu und drückte dann einen Knopf, der uns, wie ich vermutete, nicht zum Penthouse bringen würde.
«Folg mir», sagte er schlicht.
Wir stiegen aus dem Fahrstuhl und liefen still einen verlassenen Flur entlang, bis wir an einen großen Wandteppich kamen. Die farbigen Fäden waren kunstvoll zu einem Bild gewoben, das ein Rudel Dämonen in der Gestalt von Raubvögeln zeigte. Sie machten sich über einen Sterblichen her, der an einen Felsen gekettet war. Manche
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