Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
die Augenbrauen hoch. »Dann haben Sie sicher auch Verständnis dafür, wenn ich Sie nach Ihrem Dienstausweis frage.«
»Natürlich, ich hatte mich schon gefragt, wann Sie das tun würden.«
Uwe zog die flache Brieftasche aus seiner hinteren Hosentasche, klappte sie auf und zeigte dem Alten seinen Ausweis. Die Frage danach war durchaus berechtigt, jedoch nicht die lange Zeit, die Schröder ihn studierte.
»Gut«, sagte der schließlich und lehnte sich zurück. »Darf ich annehmen, dass Sie nicht im Dienst sind und dieses keine offizielle Ermittlung ist?«
Uwe steckte die Brieftasche weg. »Noch nicht, aber es kann sehr schnell eine daraus werden.«
Den letzten Satz hatte er als eine Art vorsichtige Drohung gedacht, doch der alte Mann zeigte keine Reaktion. Mit der Kaffeetasse in der Hand starrte er in den Garten hinaus. »Und worum geht es, Herr Hötzner?«
»Um eine Patientin der Nervenheilanstalt, die Sie geleitet haben. Ihre Einlieferung liegt dreiundzwanzig Jahre zurück, und …«
Schröder lachte wieder sein ungesundes Lachen. Tief in seinem mageren Brustkorb schien es ewig nachzuhallen. »Dreiundzwanzig Jahre … und Sie glauben, ich kann mich an eine bestimmte Patientin von Hunderten erinnern?«
»Nun, ich hoffe es zumindest.«
»Wie ist der Name?«
»Ellie Brock.«
Wieder starrte der alte Mann in seinen Garten und schwieg. Er starrte so lange, dass es Uwe unangenehm wurde, doch kurz bevor er sich bemerkbar machen wollte, floss plötzlich wieder Leben durch den dürren Körper. Schröder machte eine ausholende Handbewegung, die seinen gesamten Garten, vielleicht sogar die ganze Welt einschloss.
»In diesen neunhundert Quadratmetern verbringe ich mein Leben … was davon übrig ist. Vom Frühjahr bis zum Herbst ist das viel Arbeit, man kommt kaum zur Ruhe. Aber im Winter … im Winter sieht das ganz anders aus. Im Winter fehlt das Licht, wir sind dann visuell eingeschränkt und beschäftigen uns mehr mit unseren Gedanken. Deshalb ist Schnee eine solche Offenbarung. Er bringt das Licht zurück. Ich liebe Schnee.«
Uwe wusste nicht, ob er die Pause für eine Erwiderung nutzen sollte. Der alte Mann faselte, vielleicht war er gar nicht mehr in der Lage, während eines Gesprächs beim Thema zu bleiben. Schon bereute Uwe es, überhaupt hergekommen zu sein. Mehr und mehr fühlte er sich unwohl auf der Terrasse in der abgeschirmten Welt dieses merkwürdigen Mannes.
»Im Winter denke ich häufiger an sie.«
Beinahe hätte Uwe den Inhalt des Satzes nicht begriffen. Beinahe!
»An wen?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Ellie. Wenn ich ins Grübeln gerate, denke ich häufiger an Ellie Brock.«
»Warum?«
Schröder drehte seinen dürren Hals und fixierte Uwe, als wolle er herausfinden, ob der einfache Polizist vom Lande für eine Antwort auf das Warum geeignet war, ob er es verstehen würde. Es war ein abschätzender, unangenehmer Blick, dem Uwe nicht lange standhalten konnte. Dann starrte der Alte wieder in seinen Garten, und die damit einkehrende Stille legte sich wie eine Eisenklammer um Uwes Herz. Es brannte ihm auf der Zunge, seine Frage zu wiederholen, gleichzeitig spürte er aber auch, dass der alte Mann Zeit brauchte, um den Weg allein zu finden. Druck und Hetze waren hier fehl am Platz.
Nach einer gefühlten Ewigkeit sprach er weiter.
»Ich war Arzt, der Schulmedizin und der Wissenschaft verschrieben, noch während meines Studiums trat ich aus der Kirche aus. Sie können nicht an eine perfekte Schöpfung eines allwissenden Schöpfers glauben und dann daran herumschnippeln oder versuchen, Seele und Geist zu beeinflussen. Und wenn Sie erst erkennen, wie wenig perfekt der Mensch ist, glauben Sie noch viel weniger an den Schöpfer. Ich habe Lungenkrebs, nicht operabel, lässt sich nur mit Chemo und Bestrahlung einigermaßen im Zaum halten. Meinen Sie, dass Tumore eine besondere Ausprägung der Perfektion sind? Warten Sie, bis Sie auch einen haben, dann denken Sie anders darüber.
Schöpfung, Engel, Geister, übersinnliche Kräfte … für
diesen Hokuspokus war in meinem Leben kein Platz. Wenn ein Mensch erkrankt, wird er behandelt, spricht der Körper nicht auf die Behandlung an, stirbt der Mensch. Ende, aus, basta! Im übertragenen Sinne gilt das auch für den menschlichen Verstand, mit dem ich es in meiner beruflichen Laufbahn ja zu tun hatte. Ist der Verstand unheilbar erkrankt, kann der Körper zwar trotzdem sehr alt werden, was den eigentlichen Menschen ausmacht, die
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