Haeppchenweise
bestanden, in der ersten Reihe zu sitzen. Als gottesfürchtigen Katholiken interessierte ihn jedes Wort der Predigten, die ich in Gebärdensprache übersetzten musste. Mit der unerfreulichen Folge, dass sämtliche Augen sich auf das kleine Mädchen richteten, von dessen Fingern ein weitaus größerer Zauber ausging, als von dem heiligen Mann auf der Kanzel. Zu gerne hätte ich mich im Beichtstuhl verkrochen, da war es zwar stockfinster, aber man ließ mich in Ruhe. Ganz davon abgesehen, dass ich die Stelle fürchtete, in der von der Verspeisung des Leibes Christi die Rede war. Die hübschen Lieder trösteten nicht darüber hinweg: Ich war der festen Meinung, unter Kannibalen gelandet zu sein. Seither schlage ich einen gewaltigen Bogen um Talar und Kirche.
Mir leuchtet auch jetzt nicht ein, was ich hier soll. Es ist bitterkalt, die Holzbank besitzt den Charme eines Sünderstühlchens und der Geruch nach Weihrauch verursacht ein schales Gefühl in meinem Magen. Obwohl das Gotteshaus auf meinem täglichen Weg liegt, hatte ich nie das Bedürfnis verspürt, hineinzugehen. Bis heute. Das geöffnete Portal übte einen unheimlichen Sog auf mich aus.
Ich blinzle vorsichtig nach rechts, dann nach links und kneife die Augen zu. Wie richtet man das Wort an jemanden, mit dem man zwanzig Jahre nicht geredet hat, abgesehen von zwei, drei situationsbedingten Verwünschungen?
„Lieber Gott ...“
Oder sollte ich höflicherweise mit einem „Vater unser“ beginnen, ehe ich mit der Tür ins Haus falle? Menschen reagieren hilfsbereiter, wenn man sie mit Komplimenten bewirft, bevor man etwas von ihnen haben will. Ob das für Gottheiten auch gilt?
„Ich brauche dir nichts vormachen, du weißt, ich habe eine Menge Unsinn seit meinem letzten Kirchgang angestellt. Ehrlich gesagt wüsste ich aber nicht, ob ich irgendetwas besser hinbekäme, wenn ich könnte. Aber ehe ich meine Seele Luzifer anbiete, damit er meinen Laden rettet, dachte ich mir, ich frage zuerst die Guten, ob sie an einem Geschäft interessiert wären.“
Zumindest erhalte ich keinen Widerspruch.
„Das Cook & Chill ist ein Zuhause. Nicht nur für mich. Für Julius zum Beispiel ganz bestimmt. Für Julia, Friedrich und Johannes. Für Helga und Mutti. Für Sascha, der gerade alle Sushibars in Okinawa leer futtert. Er liebt diese kleinen Häppchen. Ich vermisse ihn, weißt du ...“
Wo war ich stehen geblieben?
„Vida und Lukas nicht zu vergessen. Für Roúla und sogar Henry, die es erst noch herausfinden muss. Wo sollen sie denn hin, wenn ich schließen muss?“
Wo soll ich hin? Obwohl ich mich eisern beherrsche, füllen sich meine Augen mit Tränen und ich ziehe mit einem unschönen Geräusch die Nase hoch.
„Ich schlage dir folgenden Deal vor: Du sorgst dafür, dass Jørgensens Crew schnöde Mittelmäßigkeit auf den Teller legt und ich verspreche dir bei meiner schwarzen Seele ...“
Neben mir ertönt ein leises Lachen. Ich reiße erschrocken die Augen auf.
„Gott schließt keine Geschäfte ab.“
Julius lehnt schmunzelnd an der Balustrade, den Blick auf den Altar gerichtet. Er trägt seine einzige Anzugjacke und neue Hosen, seine Haare sind ordentlich zurückgekämmt. Selbst seine Schuhe glänzen im Kerzenlicht.
„Was machst du denn hier?“, raunze ich ihn an.
„Ich entspanne mich.“
„In der Kirche?!“
Er betrachtet mich aus halb geschlossenen Lidern.
„Du warst vor mir da.“
„Aber ich ... ach, vergiss es!“
Julius zeigt mit dem Daumen hinter sich. „Diese Kirchenbänke waren kein schlechter Schlafplatz im Winter. Ich kehre regelmäßig hierher zurück, damit ich nicht vergesse, wer ich mal war. Und um dem Pfarrer meine Schulden abzuzahlen. Der Mann liebt Helgas Apfelkuchen.“ Er klopft auf seine Tupperdose.
Ich schweige betroffen und bin plötzlich fast ein wenig neidisch auf ihn. Ich weiß bis heute nicht, wer ich bin.
„Glaubst du an ihn?“ Mein Kinn deutet vage nach oben.
„Ich glaube an das, was hinter Gott steht.“
Na prima. Ebenso gut hätte er „Linsensuppe mit Würstchen“ antworten können.
„Völlig wurscht, ob du dich an Gott, Allah oder an kleine, grüne Männchen wendest. Gespräche, die wir mit einer übergeordneten Macht führen, richten sich immer an uns selbst.“
„Warst du mal Priester? Oder Psychotherapeut?“, murmele ich.
„Nein. Ich war immer Koch und wollte nie etwas anderes sein.“
„Das war ein Witz.“
„Es gibt einen Grund, weshalb du diesen Weg gehen musst, Katta. Für irgendetwas
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