Haertetest
meldete mich nur krank, wenn Maja krank war, und das kam nicht so oft vor. Wenn ich selber krank war, schleppte ich mich zur Arbeit. Was konnte es also sein?
Die Weltzeituhr in der Redaktion zeigte 18.55 Uhr für Tokio. Dort fuhren die Japaner gerade von ihren riesigen Bürotürmen in kilometerlangen silbernen Hightechzügen nach Hause in die Vorstädte, um sich ein paar leckere Hühnerkrallen zu braten oder was sie sonst so aßen. Seit ich eine Reportage bei Vox gesehen hatte, in der auf einem Markt in Japan ein deutsches Touristen-Versuchskaninchen frittierte Spinnen, Frösche und Käfer hatte essen müssen, wusste ich, dass es nichts gab, was es nicht gab. Und dass viele Vorurteile – Die Japaner essen Hunde und Spinnen – stimmten. Ich hatte es ja schließlich mit eigenen Augen im Fernsehen gesehen.
Bei uns war es fünf vor zwölf.
Die Uhr tickte, ich stand mit meinem ausgedruckten Artikel in der Hand vor Amelies Glaskäfig. Sie telefonierte, winkte mich aber zu sich hinein. Sie lächelte in den Hörer und hörte demjenigen am anderen Ende der Leitung aufmerksam zu. Ich wartete. Um meine Finger zu beschäftigen, rollte ich den vierseitigen Artikel nervös zusammen und wieder auseinander. Bis mir einfiel, dass ich diese zerknitterten Zettel wohl kaum würde abgeben können. Oh. Na ja, würde schon gehen. Hektisch strich ich über das Papier, bog es in die andere Richtung, um es zu glätten. Amelie wartete geduldig darauf, dass ihr Gesprächspartner fertig wurde, ich wartete ungeduldig.
Amelie Winter, ihres Zeichens Single und glücklich, war zweiundvierzig Jahre alt, seit zehn Jahren Redakteurin und seit zwei Jahren Chefredakteurin bei Mütter. Heute sah sie wieder besonders chefmäßig und akkurat aus. Sie gehörte zu denen, die immer top gestylt, immer pünktlich, immer höflich und sachlich und selten emotional waren. Nie erzählte sie etwas über sich. Von der Bäckersfrau an der Ecke wusste ich mehr als über Amelie. Was ich allerdings wusste, war, dass sie im schicken Hamburg-Eppendorf in einem riesigen Loft mit lauter weißen Möbeln wohnte, einen Audi TT fuhr und mit diesem fast jedes Wochenende nach Sylt flitzte. Dort schien sie sich einen oder mehrere Liebhaber zu halten, denn nach jedem Sylt-Wochenende war sie frisch und rosig, summte vor sich hin und hatte gute Laune. Vielleicht taten ihr aber auch nur die Spaziergänge am Strand gut – wer wusste das schon?
»Na gut, du«, sagte sie und begann damit das Ende ihres Telefongesprächs einzuläuten. Es konnte sich jetzt nur noch um Stunden handeln. »Ich melde mich dann die Tage bei dir. Nein, es ist wirklich alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen. Ja, bis dann, Mutti, alles gut!«
Amelie Winter hatte eine Mutti? Das überraschte mich jetzt. Nicht, dass ich mir das nicht hätte denken können. Rein biologisch betrachtet. Aber es passte einfach nicht zu ihr.
Mit einer Geste winkte sie mich zu sich und deutete auf den Chromstuhl an ihrem Glasschreibtisch.
Ich setzte mich, legte den Artikel so auf den Tisch, dass er möglichst nicht ganz so ramponiert aussah, und harrte der Dinge, die da kamen. Amelie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und strahlte mich an. Wieso strahlte sie mich an? Mir wurde unheimlich zumute. Vorsichtshalber bekam ich schon mal ein schlechtes Gewissen. Ich überlegte noch einmal fieberhaft, was ich wohl falsch gemacht hatte, um hierherzitiert worden zu sein.
»So, ich wollte ja mit dir sprechen«, setzte sie nun an. Ich nickte. So viel wusste ich ja schon.
»Du wirst dir denken können, dass es mir nicht leichtfällt, dir etwas anzuvertrauen, liebe Sophie.«
Ich holte Luft, um zu protestieren, schloss meinen Mund dann aber wieder. Ganz so unrecht hatte sie ja nicht. Die Sache mit ihrer Gallenstein- OP , als ich sie zwei Tage vertreten und niemandem den Grund nennen sollte, hatte ich aber wirklich nur Tanja erzählt. Ich konnte fast gar nichts dafür, dass am übernächsten Tag die ganze Redaktion mit »Gute-Besserung«-Girlanden geschmückt war und ein riesiger Blumenstrauß auf ihrem Schreibtisch stand. Ich meine, ich hätte mich darüber gefreut. Aber bitte, wie sie meint.
»Sophie, ich bitte dich wirklich, diese Sache erst mal für dich zu behalten, bis es offiziell ist.« Ich nickte bereitwillig.
Ich konnte auch Geheimnisse für mich behalten, zum Beispiel als ich Jonas nicht erzählt hatte, dass ich unsere Hochzeit exklusiv ans Fernsehen verkauft hatte. Seinen Gesichtsausdruck, als es herauskam,
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