Härtling, Peter
aufgehalten wurde, ist nun entlastet, wirft die Österreicher zurück. Am 8. Juli besetzt er Wetzlar, am 10. steht er vor Friedberg. Frankfurt ist nicht mehr weit. Die Stadt hört den Schlachtenlärm. Der Wirrwarr ist ungeheuer, die Furcht vor den Soldaten der Revolution macht kopflos. Wer es sich leisten kann, plant die Flucht oder ist schon fort. Die Fahrigkeit erfaßt auch Hölderlin. Er packt und packt wieder aus. Susette ist kaum ansprechbar. Oft zieht sie sich weinend in ihren Salon zurück. Gontard, der mannhaft erscheinen will, gibt Anweisungen, die er im nächsten Moment widerruft. Allein Marie Rätzer bewahrt die Ruhe, nimmt sich der Kinder an, die sich unter den Franzosen blutrünstige Kannibalen vorstellen und Todesangst ausstehen. Gontard belehrt sie nicht eines Besseren, bestärkt sie eher, wenn er von den französischen Teufeln spricht, diesen Banditen und Mordbrennern. Hölderlin wagt es nicht, zu korrigieren, den Kindern zu erklären, wofür die Truppen Frankreichs kämpfen, weshalb er auf ihren Sieg hoffe. Gontard hatte angeordnet, daß die Familie, außer ihm, die Stadt vor der Einnahme verlasse und zu Verwandten nach Hamburg reise. Der Tag der Abreise wurde von Mal zu Mal aufgeschoben. Diese Unentschiedenheit erhöhte die Nervosität. Selbst Susette herrschte mitunter die Kinder an. An den Nachmittagen verließ Hölderlin häufig das Haus, um die Unordnung in der Stadt, die »unbeschreibliche Verwirrung« zu studieren. Hier wurde, in einer Art Fieber, Geschichte sichtbar. Befestigungen am Wassergraben wurden von österreichischen Soldaten und rekrutierten Bürgern ausgebessert. Offiziere tauchten, offenbar ohne Plan und Vorsatz, in allen Gassen, auf allen Plätzen auf. Viele Reisewagen waren unterwegs, vor allem gegen Abend: Die Vermögenderen räumten das Feld. Zufällig geriet er in einem Gasthaus mit einem Gerbergehilfen ins Gespräch, der laut über die vollen Hosen der Reichen spottete. Die hätten von den Republikanern nichts Gutes zu erwarten.
Ach wissen Sie, sagte Hölderlin, in Mainz oder Paris florieren, wie ich höre, die Banken.
Also auch da, sagte der Gerber mißmutig. Unsereinem werden sie die Felle stehlen. Und die Freiheit, mein Herr, kommt auch nicht aus den Kanonen.
Was verstehen Sie denn unter Freiheit?
Die Frage machte den Mann verlegen, er stand vom Tisch auf, trank den letzten Schluck Bier im Stehen, ging.
Am Mainufer, in Sachsenhausen, lagerten Flüchtlinge aus der Wetterau. Die Frauen klagten. Es sei alles vergebens, nun würden sie doch von den Franzosen eingeholt. Sie wären besser daheim geblieben.
Zu Marie Rätzer sagte er: Es ist sonderbar – für den, der nicht betroffen ist, hat Elend geradezu etwas Malerisches.
Solange man nur zusieht, Herr Hölderlin.
Den Tag darauf waren sie auf der Flucht. Die Zeitungen hatten weitere Vorstöße der Truppen Jourdans gemeldet, Gontard war überdies noch privat unterrichtet. Sie müßten unverzüglich abreisen. Der Wagen werde in einer halben Stunde vorfahren. Gontard ließ sich nicht dazu bewegen mitzukommen. Er könne das Geschäft nicht verlassen, müsse vor allem dafür sorgen, daß im Haus nicht geplündert werde. Jetzt, als alles entschieden ist, steht kein Koffer fertig gepackt. Die Kinder heulen, werden von der Haushälterin im Souterrain zusammengetrieben, festgehalten. Ihr müßt hierbleiben, sonst findet man euch nachher nicht, und die Kutsche muß ohne euch fahren. Susette und Marie laufen, von einem Hausmädchen begleitet, unaufhörlich über den Flur, Kleider, Hüte, Taschen in den Händen. Hölderlin hat nicht viel zu packen. Damit die Mutter Nachricht bekommt, reißt er einen Brief an den Bruder, den er hatte absenden wollen, auf und fügt hinzu: »Die kaiserliche Armee ist jetzt auf ihrer Retirade von Wetzlar begriffen, und die Gegend von Frankfurt dürfte demnach zunächst einen Hauptteil des Kriegsschauplatzes abgeben. Ich reise deswegen mit der ganzen Familie noch heute nach Hamburg ab, wo sich Verwandte meines Hauses befinden … Man sagt, dieFranzosen seien in Württemberg… Sei ein Mann, Bruder! Ich fürchte mich nicht vor dem, was zu fürchten ist, ich fürchte mich nur vor der Furcht . Sage das der lieben Mutter. Beruhige sie!«
Sogar Gontard hilft, das Gepäck hinunterzuschleppen. Der Kutscher bringt das sperrige Zeug mühelos unter. Male, die Jüngste, jammert, man habe ihr die falsche Puppe gebracht.
Sei still. Küß den lieben Vater.
Henry, wo hast du dein Plaid?
Jette, das Körbchen mit
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