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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hölderlin
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sie ab, Marie?
    Wollen Sie das unbedingt von mir wissen? Warum denken Sie so ausschließlich, warum urteilen Sie so ernst und kränken sich selbst?
    Alles, was aus den Kasseler Tagen in sein Gedächtnis eingeht, ist widersprüchlich. Er wird getreten, übersehen. Der einzige Mensch, von dem er annimmt, daß er nie einen gemeinen Gedanken fassen könnte, verletzt ihn, ohne es zu bemerken. Und Marie wiederum, die er für oberflächlicher, gedankenloser gehalten hatte, versucht ihn in seiner Demütigung zu trösten. Gut, sie steht auf demselben Rang wie er, sie hat zu dienen und wahrscheinlich selber Nachlässigkeit und Demütigung erfahren, aber sie hat ein empfindliches Gemüt, übersieht die Kränkung nicht. Er fragt sich, warum er sich nicht mehr um sie gekümmert hat. Sie handelt warmherzig, geht verständnisvoll mit den Kindern um, hat einen wachen Geist, Sinn für Poesie, und nicht wenige halten sie für schöner als Susette. Doch er kann nicht einmal abwägen. Er wird auf Susette warten müssen. Es ist eine andere Liebe. Marie gleicht Wilhelmine. Das läßt sich nicht wiederholen.Er will sich nicht mehr überlegen müssen, ob es nicht doch einen Sinn hätte, eine Pfarre bei Nürtingen zu übernehmen, Ehemann zu sein, Vater zu werden. Er weiß nicht, weshalb ihn solche Gedanken verstören. Jeder hat sie. Er darf sie nicht haben.
    Marie holt ihn zu Spaziergängen, lenkt ihn ab, sie erzählt und erwartet keine Antworten. Als er, besorgt über die Kämpfe der französischen Truppen in Württemberg, auf seine Begegnung mit Lerouge im Stift zu sprechen kommt, ist sie still; sie hört ihm zu, wie er über die Missetaten der Réfugiés flucht, die aus dem Geist der Inquisition handelten und ein vergangenes Zeitalter zu retten suchten. Die Zeitung hatte die letzten Nachrichten gebracht. General Saint-Cyr verfolgte mit seinen Truppen die Österreicher über Tübingen, Reutlingen, Blaubeuren. Nürtingen könnte in die Kampfhandlungen geraten sein. Ihm ist weniger bange wegen der republikanischen Soldaten, denen er mehr Menschenfreundlichkeit zutraute, weil sie ihnen gelehrt worden sei, als »wegen der Condé’schen Untiere, die noch die Erde verunreinigen und so häßlich unter Euch hausen«. Die Emigrantentruppe unter dem Prinzen Condé war tatsächlich gefürchtet, hauste brutal, requirierte, vergewaltigte. Er weiß, wie sehr seine Mutter, die nichts mehr schätzt als häusliche Ruhe, unter all diesen Wirren leiden wird. In einem Brief an Karl, dessen berufliche Situation ihn mehr und mehr bedrückt, spricht Hölderlin es aus: »Unsere gute Mutter bedaur ich herzlich, und ich bin besorgt für sie, weil ich weiß, wieviel sie unter solchen Umständen durch ihren Sinn und ihre Demut leidet.« Dem Halbbruder möchte er, ganz aus dem Tübinger Geist und die Lehren Jenas zusammenfassend, den Blick schärfen für die gewaltige Umwälzung: »Dir, mein Karl,kann die Nähe eines so ungeheuren Schauspiels, wie die Riesenschritte der Republikaner gewähren, die Seele innigst stärken.« Es ist ihm gleichgültig, ob es ihm noch gelingen wird, die Aufmerksamkeit Heinses zu erringen oder wenigstens Susette zurückzugewinnen.
    Das geschieht ohne sein Zutun, und eben doch, wenn auch auf dem Umweg über den »Ardinghello«, mit Heinses Hilfe. Susette hatte ihn mit der Mitteilung überrascht, sie würden, auf Anraten ihres Mannes und in Begleitung Heinses, nach Bad Driburg in Westfalen weiterreisen. Das Klima dort solle ihrer immer geschwächten Gesundheit aufhelfen. Ob denn seine weitere Begleitung erwünscht sei? fragt er. Sie nimmt ihn, als hätte sie ihn nicht tagelang warten lassen, beiseite: Sie habe von Marie gehört, wie verstimmt er gewesen sei, auch ihretwegen, das wolle sie eilends gutmachen. Heinse habe für die letzten Tage noch viele Verpflichtungen, brauche also keine Unterhaltung mehr. Sie sagte: So können wir wieder für uns sein, Hölder – und Sie werden mir nichts verübeln, nicht wahr?
    Es waren kleine Schritte, die nichts verrieten von der Hast, mit der sie aufeinander zuliefen.
    Susette hatte keine Geduld mehr.
    Marie hatte Müdigkeit vorgeschützt und sich zurückgezogen. Er las weiter, Susette nahm ihm das Buch aus der Hand, so, als wüßte sie endlich ihren Part.
    Mich langweilt dieser Dialog über Raphael. Erinnern Sie sich, wie er seine Fiordimona schildert, mit welcher Leidenschaft? Das will ich Ihnen vorlesen. Sie hatte anscheinend bereits am Nachmittag ein Lesezeichen zwischen die Seiten gelegt, denn sie

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