Härtling, Peter
Name ist, sagte Jette. Es brauchte seine Zeit, bis er ihre Anspielungen begriff. Sie war es gewohnt, es war ihre Sprache. Seine war es nicht. Und noch immer war eine Grenze gezogen, die er ernst nahm. Doch er lernte es, er spielte, ein wenig gegen seine Natur, mit. Vor einer der antikisierenden Statuen, einer nackten Diana, hielt sie ihn auf, obwohl es ihm peinlich war; sie belustigte sich über seine Sittenstrenge, die er wohl weniger bei Stäudlin und seinen Freunden gelernt habe, sondern auf den Seminaren und auf dem Stift. Dann aber sprach sie von der schimmernden steinernen Haut, vonder wunderbar naiven Vorstellung, die solche Göttinnen in die Welt entlasse, von einer Freiheit, die sie sich in Träumen wünsche, und es fiel ihm leicht mitzureden.
Es war sein Einfall gewesen, sich mit der gemeinsamen Lektüre des »Ardinghello« auf Heinse vorzubereiten. Sie kannte das Buch wie er, doch sie hatte bei einem der Spaziergänge beiläufig gesagt, sie könne diese forcierte Sinnlichkeit nicht ertragen. Er hatte nichts erwidert.
Sie hatte ihn für den Abend, das Nachtessen ließen sie häufig ausfallen, auf ihr Zimmer gebeten. Marie habe bei einem ihrer Malerfreunde Heinses Buch auftreiben können, so daß man mit der Lektüre beginnen könne. Marie unterhielt noch die Kinder, die sich in der neuen Umgebung nicht zur Ruhe bringen ließen. Susette rückte ihren Stuhl ans Fenster, bat ihn, dasselbe zu tun.
Sie saßen sich gegenüber. Ihre Knie berührten sich beinahe. Er solle lesen, er kenne das Buch besser und sie werde ihn, wenn ihr etwas einfalle, unterbrechen.
Er beginnt nicht, sondern blättert, sucht. Sie sieht ihm zu. Wahrscheinlich wollen Sie auf eine unserer Unterhaltungen zurückkommen?
Es ist diese Stelle, sagte er, ich habe sie, und denken Sie an die steinerne Diana – »mit einem Worte, die Schönheit nackender Gestalt ist der Triumph bildender Kunst, viel für Auge und den ganzen körperlichen Menschen, wenig für den innern. Sie allein ergreift das Unsterbliche nicht. Dazu gehört etwas, was selbst gleich wie unmittelbar von der Seele kommt und ihrer regenden, unbegreiflichen Kraft: Leben, Bewegung. Und dies haben unter allen Künsten allein Musik und Poesie; neigt euch, ihr andern Schwestern, vor diesen Musen.«
Das ist hübsch, sagt sie, es muß Ihnen ja auch der Poesiewegen gefallen, aber ich bin entschieden anderer Meinung. Die Poesie besitze nämlich auch ich, selbst Kobus, es ist ganz einfach unsere Einbildungskraft, und sie kann, wenn sie angeregt ist, jede leblose Gestalt bewegen. Meinen Sie das nicht?
Er lacht, blättert einige Seiten weiter: Es ist auch nicht Heinses oder Ardinghellos Ansicht, sondern die eines, wie gesagt wird, »hämischen Gegenredners«. Heinse schreibt darauf und bestätigt Sie: »Man kann die Natur nicht abschreiben, sie muß empfunden werden, in den Verstand übergehen und von dem ganzen Menschen wieder neu geboren werden.«
Ja, so hätte ich es sagen können.
Marie Rätzer kommt hinzu, läßt sich ohne Mühe ins Gespräch ziehen, sie lachen viel, genießen die Unbeschwertheit, hin und wieder liest er eine Passage vor, doch nicht im Zusammenhang, eher um Appetit zu machen, zu stimulieren.
Heinses Ankunft setzte dem Leseabend fürs erste ein Ende. Susette hielt sich wieder an die gesellschaftlichen Regeln. Mit dieser Eleganz, dieser Weltläufigkeit konnte Hölderlin sich nicht messen. Er trat in den Hintergrund. Susette lud ihn zu manchen Veranstaltungen gar nicht erst ein, während Marie, an der Heinse großen Gefallen hatte, sie überallhin begleitete. Susette und Marie hatten Heinse darauf aufmerksam gemacht, daß Hölderlin schreibe, in Neuffers und Schillers Almanachen veröffentlicht habe, doch bei dem großen Mann damit kein Interesse geweckt. Er behandelte den Hofmeister nach dessen Stellung.
Hölderlin grübelte, ob er sich in Susette getäuscht, ob sie nicht ein leichtfertiges, in diesen Kreisen übliches Spiel mit ihm getrieben habe. Aus ihrer raschen Abkehr konnte eres schließen. Marie sah öfter zu ihm aufs Zimmer, schimpfte, er solle sich nicht dauernd mit den Kindern abgeben, seine Verdrossenheit sei für alle augenfällig.
Nicht für Madame Gontard.
Ach, Hölder, Sie übertreiben, Sie benehmen sich kindisch. So gradaus, wie Sie es sich denken, lebt unter uns keiner. Und Madame Gontard macht es sich schon schwer genug.
Den Eindruck habe ich nicht.
Sie kennen sie zu wenig. Herr Heinse lenkt sie ab, und darüber ist sie froh.
Wovon lenkt er
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