Härtling, Peter
fand sie, ohne zu suchen. Sie las wenig betont, dennoch anzüglich, als sei sie an der Erzählung beteiligt: »Du solltest sie sehen! Eine erhabneGestalt, die das Auslesen hat; bei Lüsternheit sprödes Wesen. Ein froh und edel wollüstiger Gesicht gibt’s nicht. Mit Adleraugen schaut sie umher und bezauberndem, doch nicht lockendem Munde. Das stolze Gewächs ihres schlanken Leibs schwillt unterm Gewand so reizend hinab, daß man dieses vor Wut gleich wegreißen möchte, und die Brüste drängen sich heiß und üppig hervor wie aufgehende Frühlingssonnen. Nur Wangen und Kinn sind in frischer Blüte und bilden das entzückendste Oval, woraus das Licht der Liebe glänzt. O wie die braunen Locken im Tanz bacchantisch wallten, der himmlische Blick nach der Musik und Bewegung in Süßigkeit schwamm, die netten Beine in jugendlicher Kraft sich hoben, wie schnelle Blitze verschwanden und wiederkamen! Doch warum beginn’ ich ein unmögliches Unternehmen! Der genießt das höchste Glück des Daseins, den ihre zarten Arme wie Reben umflechten. Mehr hat kein König und kein Gott!«
Sie schob das Buch aufs Fensterbrett, lehnte sich zurück, sah ihn an. Die Sätze hatten ihn wie Finger berührt, er hatte gesehen, was beschrieben wurde, er hat es so gesehen, wie sie es wollte: Susette in der Rolle der Fiordimona.
Sie sind mit einem Mal so blaß, sagt sie.
Das macht das Talglicht. Mir ist gut.
Haben Sie sich erinnert?
Sehr gut. Man vergißt diese Szene nicht.
Mich regen diese Sätze auf, sie bringen mich zum Träumen. Und sie setzt, sich vorbeugend, hinzu: Zum Wachträumen. Sind Sie nie ohne Furcht, Hölder?
Wovor sollte ich mich jetzt fürchten?
Sie sollten nicht fragen: Wovor, sondern: Vor wem.
Vor wem?
Vor uns.
Meinen Sie? Sie nickt, sie spielt ein Kind, das altklug nickt, alles besser weiß als das andere Kind und fragt leise: Kann ich das sein?
Er steht auf, geht in die Stube hinein, bleibt mit dem Rücken zu ihr stehen, antwortet ebenso leise: Nein. Und wiederholt sein Nein.
Kommen Sie zu mir, bittet sie ihn. Er stellt sich, mit einem kleinen Abstand, neben sie. Sie schaut zu ihm hoch, nimmt seine Hand, zieht ihn zu sich herunter. Dann legt sie ihr Gesicht an das seine, nimmt seinen Arm, legt ihn um ihre Schulter, reibt ihre Wange an der seinen, kommt seinem Mund langsam näher, küßt ihn.
Er erschrickt nicht nur, er wird ganz plötzlich kalt und starr.
Das ist die Furcht, sagt sie. Siehst du, ich habe recht, Hölder.
Sie küßt ihn wieder; er legt den Kopf in ihren Schoß.
Wenn es anders ginge, sagt sie. Ich hab es ja nicht so gewollt. Es ist so. Jetzt ist es so. Nun will ich es nicht anders.
Sie legt seine Hand auf ihre Brust: Sind sie wie die von Fiordimona?
Nein.
Sind sie nicht so schön?
Doch.
Bin ich dir fremd?
Nein.
Er setzt sich neben sie auf den Boden. Nach einer Weile hockte sie sich zu ihm, sagte: Denk, ich bin die Jette, küßte ihn, sagte: Nein, denk es nicht.
Susette hatte ihm noch an dem Abend eine Litanei von Maßregeln aufgegeben:
Du darfst in der Anwesenheit anderer nicht du zu mir sagen, liebster Hölder.
Du darfst nicht du zu mir sagen.
Du darfst, sind andere dabei, mich nicht hitzig ansehen.
Du darfst mir nicht vertraulich zublinzeln.
Du darfst mich nicht an der Hand nehmen.
Du darfst mir nicht mehr aus dem »Ardinghello« vorlesen.
Geh, sagt sie, du mußt schlafen gehen. Nun fürchte ich mich.
Er sagte: Nicht Fiordimona, sondern Diotima.
Deine?
Meine auch.
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III
Hyperion
Aufbrüche beherrschte er inzwischen. Er ließ sich auf die Unruhe, die Ungewißheit ein. Am 9. August reisten sie nach Bad Driburg ab. Heinse war dabei und beachtete ihn, wie gewöhnlich, kaum. Während der Fahrt »durch wilde schöne Gegenden« beschäftigte sich Hölderlin vor allem mit Henry und Jette, erklärte ihnen, so gut er es vermochte, die auch ihm unbekannte Gegend. Marie und Susette unterhielten sich mit Heinse. Oft lehnte er sich zurück, schloß die Augen, dann hörte er, wie Henry, dessen Gutherzigkeit ihn anrührte, leise zu den Geschwistern sagte: Pst, der Hölder will schlafen! Er dachte an die entsetzliche Reise mit Fritz von Kalb in die Rhön. Längeren Gesprächen mit Susette wich er aus. Er wollte sich vor Heinse nicht verraten.
Die vier Wochen in Driburg schmelzen zu einem sommerlichen Tag zusammen. Er kann noch einmal aufatmen, ärgert sich nicht mehr über Heinses Hochmut, findet ihn in dieser Umgebung vielmehr witzig und gewandt. Sie wohnen im Hotel neben dem
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