Härtling, Peter
habe sich Gedanken gemacht; er werde Ebel erwidern, ihr den Brief zu lesen geben, ehe er ihn abschicke. Es ist eine seiner großen, unverhüllten Antworten auf die Zeit. Da die Gegenwart die Gedanken über Demokratie, Weisheit, Vernunft des Menschen ausschlägt, muß man sie in die Zukunft werfen. Verlorengehen können sie nicht mehr, verraten dürfen sie nicht werden. Er wägt jeden Satz ab, denn er möchte Ebel von seinem Widerruf abbringen: »Es ist herrlich, lieber Ebel! so getäuscht und so gekränkt zu sein, wie Sie es sind. Es ist nicht jedermanns Sache, für Wahrheit und Gerechtigkeit sich so zu interessieren, daß man auch da sie hat, wo sie nicht ist, und wenn der beobachtende Verstand vom Herzen so bestochen wird, so darf man wohl sich sagen, daß das Herz zu edel sei für sein Jahrhundert. Es ist fast nicht möglich, unverhüllt die schmutzige Wirklichkeit zu sehen, ohne selbst darüber zu erkranken; … Aber Sie halten denn doch es aus, und ich schätze Sie ebenso sehr darum, daß Sie jetzt noch sehen mögen, als darum, daß Sie zuvor nicht ganz so sahen. – Ich weiß, es schmerztunendlich, Abschied zu nehmen, von einer Stelle, wo man alle Früchte und Blumen der Menschheit in seinen Hoffnungen wieder aufblühn sah. Aber man hat sich selbst, und wenige Einzelne, und es ist auch schön, in sich selbst und wenigen Einzelnen eine Welt zu finden. – Und was das Allgemeine betrifft, so habe ich Einen Trost, daß nämlich jede Gärung und Auflösung entweder zur Vernichtung oder zu einer neuen Organisation notwendig führen muß. Aber Vernichtung gibts nicht, also muß die Jugend der Welt aus unserer Verwesung wiederkehren. Man kann wohl mit Gewißheit sagen, daß die Welt noch nie so bunt aussah wie jetzt. Sie ist eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Widersprüchen und Kontrasten … Aber so soll es sein! Dieser Charakter des bekannteren Teils des Menschengeschlechts ist gewiß ein Vorbote außerordentlicher Dinge. Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles Bisherige schamrot machen wird. Und dazu kann Deutschland vielleicht sehr viel beitragen …«
(Ich zitiere diese Sätze so ausführlich, weil sie jenen entgegnen, die ihn ins Poetische, ins rein Geistige zu entrücken versuchen. Er war ein politischer Kopf, ein radikaler Demokrat. Es ist müßig, sich zu streiten, ob er Jakobiner oder Girondist gewesen sei. Ohne Zweifel hatten ihn die Täter enttäuscht. Seine Verdikte gegen Marat und Robespierre kommen aus einem gekränkten Herzen. Aber es sind nicht Verdikte gegen die Sache. Sie wiederum war für ihn von nun an Gegenstand eines Prozesses, an dem er denkend ein Stück teilnehmen konnte, der jedoch noch lange nach ihm kein Ende haben würde. Die Täter flößten ihm zeit seines Lebens Angst ein und zogen ihn gleichermaßen an. Er brauchte sie für sein Denken, dochsein Denken verließ sich nicht auf sie. Sein Brief an Ebel ist auch an die Späteren gerichtet.)
Susette will seine Übertreibungen nicht einsehen. Du verlangst zuviel von uns allen, Hölder, wir sind kleiner, kleinlicher. Doch Ebel wird deine Aufmunterung brauchen.
Es gibt Stunden, in denen sich die Unbeschwertheit wiederholt, die ihnen in Kassel gelang, nur läßt es die Umgebung kaum mehr zu, sie ist wachsamer und gefährlicher. Komm heute Abend, wir wollen zusammen lesen.
Dann aber ist sie aufgehalten, durch zufällige Gäste, durch die Ansprüche Gontards, den sie ihm gegenüber in Schutz nimmt: Sei nicht unduldsam. Ich kann den Kobus nicht alleine mit den Schlössers lassen. Sie würden sich nach meinem Befinden erkundigen, ob ich krank sei; ich will ihm keine Ungelegenheiten bereiten.
Er hofft auf Hegel, der inzwischen zugesagt hat und seine Stellung im Januar 1797 bei Gogel antreten will. Mit ihm wird er ohne Vorsicht auch die Zeit besprechen können. Aber es war ein kränklicher, trübsinniger Hegel, der in Frankfurt ankam. Die Schweizer Einsamkeit hatte ihm zugesetzt. Er sei am Ende fast an sich selbst erstickt. Und der Hypochondrie.
Bei Gogels jedoch, deren Lebensstil ihm zusagte, erholte Hegel sich schnell. Sie besuchten einander, sooft es die Pflichten zuließen, machten sich auf Zeitungsartikel und Bücher aufmerksam; die alte Debattierwut stellte sich wieder ein. Sie gerieten gleich zu Beginn, durchaus angeregt, aneinander. Hegel hatte Hölderlin eher spaßeshalber nach dem Gedeihen »seiner Philosophie« gefragt; der winkte ab: Nein, die Philosophie ist für mich bloß noch
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