Härtling, Peter
Augenblick zu entschuldigen, sie solle inzwischen jene Stellen lesen, die er unterstrichen habe. Es ist wie ein Brief an dich. Als er wiederkehrte, zog sie ihn zu sich, streichelte ihn, führte seine Hände, flüsterte, als könnte einer mithören: Einmal werde ich für dich da sein, Hölder, sei sicher, wir brauchen Zeit, obwohl wir gar keine haben. Du mußt es einfach glauben wie ich. Sie werden alle wissen, wer du bist. Alle, und ich werde stolz auf dich sein.
Er brauchte ein Echo, er ist ausgehungert nach Erfolg. Die Freunde bittet er um ihre Meinung, Neuffer, Conz. Mit Hegel wird er gesprochen haben, von Heinses Sympathie hörte er über Doktor Sömmering, den Arzt der Gontards, mit dem er sich anfreundete. »Es sind Stellen drin, …, so warm und eindringend, daß sie selbst den alten Kant ergreifen und von seinem bloßen Schein aller Dinge bekehren sollten. Meinen Segen dem jungen Helden auf seiner Laufbahn«, schreibt er an Sömmering, erwartend, daß er dies dem Gontardschen Hofmeister weitersage. Vielleicht als Entschuldigung dafür, daß er ihn in Kassel und Driburg übergangen hatte.
Viel mehr hört Hölderlin nicht. Die Rezensenten erwarten, nimmt er an, den zweiten Band, dessen Manuskript er Ende des Jahres an Cotta schickt. Kein Wort von Schiller, auf das er wartete, das ihn aus der zunehmenden Verkapselung hätte befreien können.
Ich wachse zu, sagte er zu Susette. Ich komme nicht mehr aus mir heraus.
Sie vertröstete ihn auf den Sommer, Gontard hatte als Landhaus den Adlerflychtschen Hof gemietet, im Norden vor der Stadt, nicht weit vom Eschenheimer Tor, so daß er ohne Last ins Geschäft gehen konnte.
Bis dahin war noch lang. Und Susette, üble Nachrede befürchtend, riet ihm, sie »gewissermaßen zu vergessen«, sie weniger zu besuchen, die Kinder würden es ihm danken. Daß er jetzt seine schlechte Stimmung fast immer mit Nervenschmerzen begründete, erschreckte sie, aber sie konnte ihm, ohne ihre Liebe zu verraten, nicht helfen, veranstaltete Tees mit Freunden, zu denen er nur geladen war, wenn Sömmerings, Gogels oder Maries Verlobter kamen. Es fiel ihm dann nicht leicht, sich unbefangenzu geben, sie nicht länger als nötig anzusehen, nicht wenigstens versteckt zärtlich zu werden. Er spielte den Zurückhaltenden, den Hypochonder, der auf Mitleid angewiesen ist. Er spielte es schon gar nicht mehr. Er drohe, meinte Sömmering, der ihn gründlich untersuchte und ihm beruhigende Mittel verschrieben hatte, ernsthaft krank zu werden. Sömmerings Idee, die menschliche Seele sitze in der Zirbeldrüse, werde also von Organischem bestimmt, von Säften und Sekreten, hatte ihn erst belustigt, ihm dann zu denken gegeben. Hegel hielt diese Ansicht für schlichten Mumpitz.
Aber was ist die Seele sonst? Wo befindet sie sich? Ist sie Gas? Oder das, was die Gedanken bindet? Das Nichts zwischen dem Schönen und Bösen?
Die Seele ist auf unser Empfinden zurückzuführen. Das ist alles.
Sömmering, dem er von dieser Auseinandersetzung erzählte, blieb beharrlich: Wissen Sie, Lieber, sicher könnte man die Seele auch so definieren wie Sie oder Ihr Freund Hegel, es fänden sich zahllose weitere Erklärungen, aber als Mediziner bin ich auf die Natur des Menschen, auf seine Physis verwiesen.
Und wenn ich manchmal denke, meine Seele wird an den Rändern schwarz und trocken und rollte sich allmählich auf wie ein Blatt?
Dann ist es vielleicht das Erscheinungsbild einer realen Krankheit.
Bin ich krank?
Sie sind es gewiß nicht, Herr Hölderlin, sie könnten es werden.
Sömmering verordnete ihm Ablenkung vom Hause. Sie verlassen ja kaum den Weißen Hirsch. Ich weiß, Sieschreiben an der Fortsetzung Ihres Buches, und vormittags haben Sie sich Henry zu widmen. Lassen Sie sich freigeben von Madame Gontard. Sinclair würde sich freuen, wenn Sie einige Tage in Homburg verbrächten. Oder holen Sie sich Ihren Bruder her. Das hatten Sie doch vor.
Es geht auf und ab. Die Beruhigung, die er sich in den ersten Frankfurter Wochen erhofft hatte, wird nie eintreten. Er lädt den Bruder ein, bezahlt ihm die Reise, und im April kommt Karl an. Er staunt über alles, die große Stadt, die Menschen, die Pracht der Häuser, und Hölderlin unterstützt ihn darin, obwohl er Lust hätte zu korrigieren, zu sagen, wie dürftig, oberflächlich, hinfällig sich das alles nach genauerer Kenntnis offenbart.
Hier isch’s schö. Du hasch’s schö.
I woiß, Karl.
Susette sorgt, gegen den Widerstand ihres Mannes – wenn das so
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