Härtling, Peter
in den Strom / Tief fällt der Bach …«
Der Konsul bittet ihn zu einem der abendlichen Feste, er dürfe sich nicht so in seiner Einsamkeit vergraben, sein Trübsinn sei den Kindern schädlich. Die Älteste der Töchter bleibt wie zufällig neben ihm, macht ihn bekannt, ihre Ungezwungenheit schützt ihn. Aber sie kann ihn nicht bewahren vor seinem suchenden, mit Bildern der Vergangenheit vergleichenden Gedächtnis: Eine der jungen eleganten Frauen ähnelt Susette. Wie Susette hebt sie beim Lachen unwillkürlich den Arm. Wie sie beugt sie sich beim Zuhören ein wenig vor.
Mademoiselle Meyer, der seine Aufmerksamkeit für die Frau nicht entgeht, fragt ihn, ob er die Dame kennenzulernen wünsche. Sie sei die Frau des reichsten Tuchhändlers von Bordeaux.
Ich bitte – nicht.
Er stottert vor Erregung. Lassen Sie mich hinaufgehen, ja?
Fühlen Sie sich nicht wohl, Monsieur?
Ich bin nur sehr müde. Entschuldigen Sie mich.
Am anderen Tag beantragt er, schon auf der Flucht, bei der Gendarmerie einen Paß von Bordeaux nach Straßburg.
Direkt? fragt der Gendarm.
Vielleicht möchte ich noch nach Paris.
Also »librement circuler«?
Er kann sich – und schämt sich deswegen – nicht ruhig halten, Arme und Beine zucken.
Der Offizier bemerkt es, bietet ihm einen Stuhl an und stellt die üblichen Fragen:
Haarfarbe?
Braun.
Braun? Kastanienbraun.
Augenbrauen?
Wie?
Farbe der Augenbrauen.
Kastanienbraun. So wie das Haar. So wie Sie sagten.
So sagte ich. Form des Gesichts?
Hölderlin schweigt, und der Gendarm gibt sich selbst die Antwort: Also oval. Stirn?
Wieder schweigt Hölderlin, aber lächelnd.
Hoch. Ja, hoch. Augen?
Braun.
Nase?
Sehr lang.
Schreiben wir: Lang. Mund?
Hölderlin kneift den Mund ein wenig zusammen. Der Offizier sieht ihm prüfend auf die Lippen, scheint sich nicht schlüssig zu sein: Mittelgroß, meine ich.
Kinn? Hier gibt sich der Polizist ohne Zögern die Antwort: Rund – Sie können den Ausweis in zwei Tagen abholen, Monsieur.
Erst in zwei Tagen?
Vielleicht schon morgen.
Ist es sicher?
Wenn Sie in Eile sind?
Ich bin es.
Dann morgen.
Ich danke Ihnen.
Während des Abendessens bemerkt Hölderlin nebenbei, daß er bereits morgen aufbreche, aufbrechen müsse. Merkwürdigerweise erkundigt sich Meyer nicht nach dem Grund. Ich habe es erwartet, Monsieur. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Heimweg und fürs Weitere wenig Verdruß. Meyer bittet Hölderlin, am nächsten Morgen zu ihm ins Arbeitszimmer zu kommen, damit er ihm das Honorar sowie ein Reisegeld überreichen kann.
Hölderlin packt, findet erst keinen Schlaf, dann, auf der Grenze zwischen Wachsein und Bewußtlosigkeit, träumt er, daß ihm an einem Strand, der dem in der Nähe des Meyerschen Weingutes gleicht, Susette und die Französin, die ihr ähnlich ist, Hand in Hand entgegenkommen. Beide tragen durchsichtige Gewänder, die der Wind an ihre Körper drückt. Sie schweben auf ihn zu. Das verdoppelte Gesicht ist seltsam entstellt. Er will fortlaufen. Es gelingt ihm nicht, denn er ist bis zum Knie in den Sand eingesunken. Sie haben ihn fast erreicht. Aber dann bewegen sie sich auf der Stelle. Der durchsichtige Stoff verschmilzt mit der Haut. Jetzt sind beide Gestalten nackt. In der Nähe werdenihre Gesichter undeutlich. Die Gedanken, die er nun groß und verzweifelt in seinem Kopfe sieht , geben ihm Bescheid, daß es die Leiber von Susette und der Französin sein müssen. Sobald er das weiß, werden auch die Gesichter wieder kenntlich, die Frauen können sich wieder bewegen. Sie ziehen ihn aus, wie ein Kind, das gebadet werden soll. Er weiß, daß sie keine Stimmen haben, nicht mit ihm sprechen können. Susette zwingt ihn, sich auf die Französin zu legen. Er versucht sich zu wehren. Warum sie zuerst? schreit er. Weil ich sie bin, hört er eine Stimme; aber die Lippen Susettes haben sich nicht bewegt. Er fühlt die andere Haut unter der seinen, die Frau räkelt sich, eine ungeheure, sprachlose Lust überkommt ihn. Er gibt ihr nach. Als er aufschaut, ist Susette verschwunden. Er schlägt die andere Frau ins Gesicht. Wo ist sie? Warum ist sie weg? Sie spürt offenbar seine Schläge nicht und gleicht jetzt wieder vollkommen Susette. Er sagt sich: Sie ist es, aber sie ist es nicht. Sie sagt, mit der Stimme einer Somnambulen, jedes Wort betonend: Ich habe es für Sie getan, Monsieur, und geht in dem feuchten, kühlen Sand unter. Er wacht auf an dem Nachhall seines Schreis.
Ich will mit niemandem darüber sprechen, sagt er laut.
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