Härtling, Peter
Arzt. Wenn er Anfälle bekomme, sollten sie nach ihm rufen.
Auf Zehenspitzen gehen die beiden Frauen hinaus, in die Küche, dort sitzen sie regungslos, warten, lauschen auf ein Geräusch aus seinem Zimmer, rühren sich aus Angst nicht fort.
Er schläft nicht lang, hat, sagt er, das ruhige Schlafen verlernt, bittet Heinrike, mit ihm spazierenzugehen, am liebsten zum Maulbeerbaumhain am Neckar.
Ist denn Maientag schon gewesen? fragt er. Vor sechs Wochen.
Ich bin im Winter gegangen und im Sommer heimgekehrt. Heinrike versucht ihn vorsichtig auszufragen, weshalb erBordeaux verlassen habe, doch er weicht aus, man habe seine Gründe, es seien allzu viele.
Er erholt sich rascher, als Doktor Planck vermutet hat. Der Arzt warnt freilich Johanna, er halte es für eine Scheinbesserung, rechne eher mit einem bösen Rückfall. Ich kann keine Briefe schreiben, klagt er. Wahrscheinlich ist es vernünftig, ich ziehe wieder zu Landauers, dort habe ich meinen schönen Schreibtisch und die nötige Ruhe.
Die hast du doch auch bei uns.
Er läßt sich von seinem Entschluß nicht abbringen. Landauer ist zwar über Hölderlins unangekündigtes Auftauchen überrascht, nimmt ihn aber mit aller Fürsorge auf.
Hölderlin spricht mit Scheffauer über Gedichte, die er zu schreiben vorhabe, die mit der üblichen Poesie nicht zu vergleichen seien.
So wie der Geist sich entwickelt und seine Erfahrung macht, werden meine Gedichte sein, werter Freund, sie sollen nicht mehr nach Vollendung streben, sondern den Lauf der Geschichte in sich aufnehmen und wiederholen, ihn sichtbar machen als einen herrlichen Entwurf, den keiner vollenden kann. Das Gedicht kann ein getreuer Begleiter der Zeit sein. So wie ich es nun schreibe: »Nämlich es reichen / Die Sterblichen eh an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo / Mit diesen. Lang ist / die Zeit, es ereignet sich aber das Wahre.«
Scheffauer will wissen, was er unter dem Wahren verstehe.
Darüber, mein Herr, möchte ich mich nicht weiter auslassen. Es steht ja geschrieben. Oder haben Sie denn nichts mit den besseren Menschen zu tun?
Anfang Juli bekommt Landauer von Sinclair einen Brief, den Landauer an Hölderlin weiterschicken solle, weil Sinclair dessen Adresse in Bordeaux nicht kenne. Landauer bringt ihn lachend Hölderlin: Siehst du, da kommst du schneller zu einer Nachricht von Sinclair, als der erhoffen kann. Hast du ihm nie aus Bordeaux geschrieben?
Dazu bin ich nicht gekommen.
Hölderlin legt das Kuvert mit einer Pedanterie, die Landauer ärgert, genau an eine Ecke des Schreibtischs.
Willst du ihn nicht lesen?
Ich habe jetzt keine Zeit.
Kaum ist Landauer aber aus dem Zimmer, reißt er den Brief auf. Er liest, was er nicht gewußt und was ihn krank gemacht hat. Seine Lippen bewegen sich mit den Wörtern: »Homburg vor der Höhe, den 30ten Jun. 1802. – Lieber Hölderlin! – So schrecklich mir die Nachricht ist, die ich Dir zu geben habe, so kann ich doch nicht das dem Zufall überlassen, wogegen die Hülfe der Freundschaft zu gering ist … Der edle Gegenstand Deiner Liebe ist nicht mehr, aber er war doch Dein, und wenn es schrecklicher ist, ihn zu verlieren, so ist es kränkender, nicht der Liebe würdig geachtet zu werden … Trost weiß ich Dir keinen zu geben, besser, als Du selbst hast. Du glaubtest an Unsterblichkeit, da sie noch lebte, Du wirst gewiß itzt mehr denn vorher glauben, da das Leben Deiner Liebe sich vom Vergänglichen geschieden hat … Am 22ten dieses Monats ist die G. gestorben, an den Rötheln, am 10ten Tag ihrer Krankheit. Ihre Kinder hatten sie mit ihr und überstanden sie glücklich. Sie hatte den verflossenen Winter einen gefährlichen Husten gehabt, der ihre Lunge schwächte. Sie ist sich bis zuletzt gleich geblieben. Ihr Tod war wie ihr Leben …« Ohne eine Nachricht zu hinterlassen, flieht Hölderlin aus dem Haus. Er muß nach Nürtingen! Alles, was ihn in den letzten Tagen belebt, seine Gedanken erfrischt hatte, istgeschwunden. Er ist leer, ein leerer Raum, in dem einige Sätze lauter und lauter werden und widerhallen. Die Trauer springt um in Wut. Nicht die Welt, nicht die mißgünstige Zeit ist es gewesen, die Gefälligkeiten, die Geselligkeiten haben sie umgebracht. Jene, die ihn zur Seite gedrückt, vertrieben hatten. Die Namenlosen, die Schrecklichen, die Mächtigen. Er läuft wortlos die Stiege zu seinem Zimmer hinauf, öffnet das Fenster, stößt einen Schrei aus, den Johanna ihr Leben lang nicht vergessen würde, trommelt sich mit den
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