Härtling, Peter
Er zieht sich an, rückt den Stuhl zum Fenster, legt die Hände auf die Knie, wartet bis es hell wird. Er hört Schritte, Türen schlagen. Nun kann er sein Geld holen. Der Konsul hält es schon bereit, ist überaus freundlich, wohl auch besorgt. Hölderlin könne sich, wenn er wolle, noch einige Tage im Hause aufhalten, ohne die Mädchen unterrichten zu müssen.
Es geht nicht, Euer Hochwohlgeboren. Der Konsul schaut ihn nachdenklich an: Sie scheinen mir nicht gesund zu sein.
O doch. Meyer ruft seine Frau, auch die zwei älteren Mädchen kommen. Sie verabschieden sich freundlich, beinahe mitleidig von ihm, verlassen aber das Zimmer gleich wieder.
Sie haben Ihre Weste nicht geknöpft, Herr Hölderlin. Hölderlin lächelt und antwortet: Da müßte ich mich entschuldigen, Eure Exzellenz.
Sie haben schlecht geschlafen, mein Freund.
Nein, allerbestens.
Gehen Sie. Der Herr sei mit Ihnen.
Ach, nun hab ich zu predigen vergessen.
Sie werden es zu Hause nachholen können.
Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, Euer Hochwohlgeboren.
Auf der Gendarmerie hält man ihn nicht auf, der Paß ist bereits ausgestellt. Bis Angoulême geht er zu Fuß. Er hat sich die Namen der Städte eingeprägt, die an der großen Straße nach Paris liegen, sagt sie sich im Gehen vor. Stunden hat er nichts anderes im Kopf als diese Namen. Manchmal hält sein Blick Bilder fest. »Ist der einfältige Himmel / Denn reich? Wie Blüten sind ja / Die silbernen Wolken.« Oder er sagt Äther vor sich hin, Äther, oder Fürst. Die Wörter sind rund, bringen nichts mit, sie sind Wörter für sich, wie Steine, nichts sonst. Zwischen Poitiers und Orléans verkehrt wieder die Post. Manche Ortschaften sind von den Kämpfen verwüstet. Einem Mitreisenden will er erzählen: Unweit von hier, in der Vendée …
Ich weiß Monsieur, ich bin von dort.
… hat mein Freund, Baron Isaac von Sinclair, ein Stück geschrieben gegen die Aufständischen.
Der Angeredete, anscheinend kein Freund der Republik, lehnt sich zurück, achtet nicht mehr auf ihn.
Von Orléans nach Paris geht er wieder zu Fuß. Die Wagenreisen sind ihm zu teuer. In Paris kommt er am späten Abend an, wird, wegen seiner verschmutzten, vernachlässigten Kleidung aus einem Gasthof gewiesen. Er wehrt sich nicht, verneigt sich vielmehr übertrieben vor dem Wirt: Es könnte sein, mein Herr, es könnte sein, Sie sind im Recht, mein Herr, ich will Ihre Bildung ja nicht anzweifeln und Ihren Anstand auch nicht.
Er schläft in einem Hauseingang, wird am frühen Morgen auch von dort vertrieben.
Erst fragt er Passanten nach der Adresse eines gewissen Ebel, der inzwischen sicher berühmt ist, danach nach dem Haus des hochgeschätzten Deputierten Brissot. Die Angesprochenen lachen, klopfen sich mit dem Finger gegen die Stirn. Brissot? Den haben sie geköpft.
Geköpft?
Ein junger Deutscher, der seinem Treiben eine Weile zugesehen hat, redet ihn an, gibt ihm ein Stück Brot, das er, schon ohne Hunger, hinunterschlingt.
Leben Sie in Paris?
Ich befinde mich auf der Durchreise, mein Herr.
Die unerwartete Freundlichkeit beruhigt ihn, die Häuser rücken wieder an ihre Stelle, die Straßen erscheinen ihm nicht mehr eng und verfinstert, er hat seine Schritte nicht mehr neben sich. Er fragt den Jungen, ob er sich ihm anschließen dürfe, der aber, erschrocken über diesen Wunsch, schützt Pflichten vor.
Wissen Sie denn keine gescheite Galerie? Als er mit Susette die Statuen auf der Wilhelmshöhe betrachtet hatte, hatte Tischbein gesagt: Die schönsten Antiken haben die Franzosen gesammelt. Der junge Mann führt ihn zum Musée Napoléon und verabschiedet sich. Hölderlin geht durchdie Säle. Es ist wohltuend kühl. Die Figuren, jede in ihrer Bewegung innehaltend, still, greifen sein Gedächtnis doch zu sehr an. Allein kann er ihre Größe nicht aushalten.
An den Rest des Weges erinnert er sich nicht mehr, nur daß ihn der Beamte in Straßburg, der ihm die Ausreisegenehmigung erteilte, in Wut versetzte; zwei Gendarmen schleppten ihn über die Grenze. Er möge bloß nicht wiederkommen. Von solchen Lumpen hätte man genug.
Es ist besser, ich geh zum Landauer, der kennt mich, sagte er sich. Wer kennt mich schon.
Um sich aus seiner Erregung zu lösen, geht er, an Landauers Haus vorüber, einige Male um die Hauptwache, versucht die Kleidung in Ordnung zu bringen, wäscht sich an einem Brunnen Hände und Gesicht. Dann tritt er in das Geschäft im Parterre, in dem Landauer sich zu dieser Zeit im allgemeinen aufhält.
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