Härtling, Peter
Fäusten gegen die Brust, reißt sich Haare aus, schreit, nimmt einen Stuhl, schlägt ihn gegen die Wand, wirft ihn aus dem Fenster, danach die Waschschüssel, den Krug, die kleine Stellage. Die Frauen trauen sich nicht, zu ihm in die Stube zu gehen. Planck kommt in Begleitung von drei Männern. Sie drehen ihm die Arme auf den Rücken. Wieder sind es seine Widersacher, selbst die hier, wieder wollen sie ihn wegdrängen, zum Schweigen bringen. Eine Hand legt sich auf seinen Mund, droht ihn zu ersticken. Allmählich gibt er nach. Sie legen ihn aufs Bett, binden ihn mit Stricken fest. Planck flößt ihm ein beruhigendes Mittel ein. Der Arzt hebt ein Buch auf, das zu Boden gefallen war und beginnt daraus vorzulesen. Es ist Homers Ilias. Er liest, die Wirkung stellt sich bei dem Kranken augenblicklich ein. Sein verkrampfter Körper entspannt sich, die geballten Hände öffnen sich, nach einer Weile spricht er die griechischen Sätze mit.
Dieses Mal schläft er die Nacht und den folgenden Tag durch, erwacht gegen Abend, sehr ruhig, bittet Heinrike, die sich auf eine lange Wache eingerichtet hatte, um etwas Wein und eine Suppe, fragt nach Tabak für seine Pfeife. Die Wutausbrüche wiederholen sich in größer werdenden Abständen. Eine der beiden Frauen ist stets in seiner Nähe.Sie haben ihn dazu überredet, bei schönem Wetter im Garten hinterm Haus zu sitzen, ihm auch einen kleinen Tisch hinuntergetragen. Aber er schreibt nichts. Manchmal liest er. Und wenn er steif wird und nur noch das Weiße seiner Augen zu sehen ist, rennen Rike oder die Mutter quer über die Kirchgasse zu der Lateinschule und rufen nach dem Vorleser. So hat es Planck mit dem Nachfolger von Kraz besprochen. Einer der Schüler, die nichts zu fürchten hätten, müßte unverzüglich kommen und aus dem Homer vortragen. Die Buben wechseln einander ab; sie halten es für eine Auszeichnung, den Dichter, von dem der Dekan Klemm behauptet, daß er seinesgleichen nicht habe, zu beruhigen, zu heilen. Sie sind auch die einzigen, mit denen er sich in ein Gespräch einläßt. Er erzählt von seiner Zeit an der Lateinschule von Kraz und Köstlin, von einem gewissen Schelling, der besonders gescheit, aber auch besonders eitel gewesen sei.
Sein Befinden bessert sich. Aber er hat wenig Lust, mit Menschen zu verkehren. Kraz und Köstlin möchte er nicht sehen.
Sinclair, von Landauer unterrichtet, bittet Hölderlin dringlich, einen Aufenthalt in Homburg zu erwägen: »Du bist mir itzt näher und ich hoffe itzt mehr Dich zu sehen und zu besitzen. Wenn Du willst, so hole ich Dich ab.« Noch will er die gewohnte Umgebung nicht verlassen. Er weiß, sie schützt ihn. Seine Anfälligkeit ist noch groß, er ist noch immer nicht imstande zu arbeiten. Sinclair läßt nicht locker, es gelingt ihm auch, den verstörten Freund aus dem Unterschlupf zu locken: mit der Aussicht auf eine Reise und der Begegnung mit Freunden. Sinclair werde, zusammen mit dem Landgrafen, vor der Reichsdeputation in Regensburg um eine Vergrößerung der Landgrafschaft streiten. Karl wußte über die Regensburger Sitzungen Bescheid: Nach dem Frieden von Lunéville und der Abtretung der linksrheinischen Gebiete sei es die Aufgabe der Reichsdeputation, Benachteiligungen durch neue Grenzen auszugleichen.
Der Bruder hatte sich seit der Heimkehr Hölderlins im Hintergrund gehalten. Ihm flößten die Anfälle nicht nur Angst ein, er war auch, nachdem er nun einen Blöden in der Familie hatte, um seine Reputation in der Stadt besorgt. Inzwischen hatte er es vom Schreiber zum Substituten gebracht. Karl überredete Johanna, dem Drängen Hölderlins nachzugeben und ihn, da Sinclair ja auch für die Reisekosten aufkommen wolle, nach Regensburg fahren zu lassen.
Erst nahm er die Fahrt eher gleichgültig hin. Aber als der Wagen in Blaubeuren hielt, wo die Pferde gewechselt werden mußten und er sich erinnerte, wie er hier Schwager und Schwester besucht hatte, lebte er auf, schaute fast unentwegt aus dem Wagen, auf Landschaften, die er, sobald die Kutsche Ulm verlassen hatte, nicht mehr kannte, die »bairische Ebene« und die »fränkischen Hügel«. Er machte sich Notizen, schrieb über die Zeilen, die sich noch nicht zusammenfügten, »das nächste Beste«, womit er das meinte, was ihn umgab, umgeben hat, was die unverständige Zeit verdarb, was nun als reine Anschauung wiederkehrte, Europa, das Vaterland, das er durchwandert oder durchdacht hatte, vernünftiger und reiner denn je: Von den Orten in der Gascogne,
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