Härtling, Peter
ich ihn, erzählend, verstanden.
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Achter Teil
Im Turm
Tübingen (1807–1843)
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I
In der Klinik
Ich erreiche ihn nicht mehr, er hat sich verschlossen. Ich weiß nicht, wie ich dieses Ende, das nicht enden will, erzählen soll.
Die zahllosen Anekdoten fassen ihn nicht. Der arme Hölderlin. Der alte Mann im Turm. Der Vielbesuchte, Vielbestaunte. Das Schaustück: Der wahnsinnige Dichter.
Ich weiß nicht, ob er sich erinnert; was er erinnert. Er hat die Welt, die er packen wollte und die ihm mitspielte, verlassen; vielleicht hat er sie auch nur genarrt.
Die Zeit geht ihn nichts mehr an; sie murmelt erbärmlich das weiter, was er kannte, nur werden neue Namen eingesetzt: Metternich, Wellington, Blücher, Fouché.
Noch als er in Homburg war, schlug Napoleon die Österreicher und Russen bei Austerlitz.
Und kurz vor seinem Tod, im Jahre 1843, zwischen Nürnberg und Fürth fährt schon die Eisenbahn, beginnen junge Leute wieder auf Umsturz zu hoffen, auf Revolution, geht womöglich Sinclairs, Muhrbecks, Seckendorfs Saat auf.
Vielleicht tarnt er sich? Namen kann er sich nicht merken, Gesichter doch. Namen ersetzt er durch hohe, ihn erniedrigende Anreden wie »Majestät« und »Euer Hochwohlgeboren«. Und oft, wenn man ihn Hölderlin nennt, wird er böse. Er zieht es vor, Scardanelli oder Buonarotti zu sein. Hat er wirklich keine Erinnerung? Hat die ungeheure Wut ihm alle Bilder aus dem Kopf gefegt? Spielt er, will er Rätsel aufgeben? War Buonarotti nur ein klangvoller Name, der in seinem zerstörten Gedächtnis übriggeblieben war? Oder doch eine Botschaft? Verbrüderte er sich wissentlich, den Narren spielend, mit seinem Leidensgenossen, jenemBuonarotti, einem Toscanischen Revolutionär, der erst Robespierre, dann Gracchus Babeuf anhing, dessen »Verschwörung für die Gleichheit« und der, als man ihn, Babeuf und andere vor Gericht stellte, nicht eine seiner Ideen preisgab und auf die Insel Oléron verbannt wurde? Spielt er, weiß er es?
Er hat geschwiegen, und, wenn nicht, in fremden Sprachen geredet oder in sardonisch gestelzten Wendungen. Meine Erzählung wehrt sich gegen diese Geschichten. Man hat sie gutwillig, staunend, verehrend in diesen sechsunddreißig Tübinger Jahren gesammelt, verbreitet, bis zur Unkenntlichkeit weitergesponnen, den Narren mystifiziert. Sie geben nichts von ihm wieder.
Drei Männer müssen ihn aus dem Wagen in die Klinik schleppen. Die Anfälle haben ihn geschwächt. Die ihm fremd gewordene Welt schrumpft auf das alte, ihm ehemals vertraute Planquadrat: Die Bursagasse, an der die Klinik steht und die zum Stift führt, der Markt, die Stiftskirche, das Schloß, der Zwinger, die Gassen am Neckar, das Neckartor. Vermutlich hat ihn Sinclair bei Autenrieth angekündigt.
Dem Namen nach war Hölderlin dem Arzt sicher bekannt, der, zwei Jahre jünger als Hölderlin, zwar nicht in Tübingen, sondern an der Karlsschule studiert hatte, aber seit 1797 in Tübingen Anatomie und Chirurgie lehrte, belesen war und sicher mit einigen der alten Freunde Hölderlins verkehrte, zum Beispiel mit Conz, der nun ebenfalls eine Professur hatte. In dem Gebäude der alten Burse richtete Autenrieth das erste Tübinger Klinikum ein. Mit Geisteskranken hatte er sich seit seinem Studium beschäftigt, auch drei Zimmer in seiner Klinik speziell für Wahnsinnigefreigehalten. Anschauung und Anleitung dafür fand er weniger in den Tollhäusern seiner Heimat, die er scharf kritisierte, sondern, bei einem zweijährigen Aufenthalt, in Nordamerika. In Philadelphia hatte er das Pennsylvania-Hospital besucht. Es war von Benjamin Franklin gegründet worden, der als Vater der amerikanischen Psychiatrie galt, und wurde ungleich aufgeschlossener, menschenfreundlicher geführt, als es Autenrieth sich bis dahin vorstellen konnte. Autenrieths bemerkenswerte Unbefangenheit spricht sich auch in einem Aufsatz »Über die im Clinicum in Tübingen getroffenen Einrichtungen für Wahnsinnige« aus. Er weiß bereits, daß die »gewöhnlichen Irrenhäuser«, diese Krankenpferche, eher noch kränker machen; »laut fordert also die Menschlichkeit, die Irren vertheilt zu lassen, und nur wenige auf einmal oder in Zwischenräumen, wo der Arzt sich selbst wieder erholen kann, einem einzelnen Arzte zur Besorgung zu übergeben, was schon durch das Vertheiltbleiben der Wahnsinnigen im Lande erreicht würde«. Und er weiß ebenso, was noch erstaunlicher ist, daß solche Kranken stark von ihrer Umgebung abhängig sind und
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