Härtling, Peter
beschlossen, ihn nach Tübingen, in die Autenriethsche Klinik zu bringen, in die Nähe der Verwandten. Sinclair hat Mühe, einen Begleiter für die Reise aufzutreiben.
Es ist noch nicht Tag. Aber er ist längst wach. Mit einem Mal sind viele schwere Schatten um ihn. So wie er es erwartet hatte. Sie rücken die Wände auf ihn zu und wollen ihn zerquetschen. Er hat es gewußt. Keiner hat es ihm glauben wollen. Er wehrt sich, muß sich wehren, schlägt, beißt, kratzt. Die Schatten sind auch Männer, alle diese Verräter, die er gefürchtet hat, Royalisten, Marodeure.
Sie binden ihm Beine und Arme, tragen ihn hinaus, werfen ihn in eine Kutsche. Er hat Kraft, die Furcht macht ihn stark, es gelingt ihm, die Fesseln an den Beinen zu sprengen und einige Schritte zu fliehen.
Aus einer unfaßbaren Ferne, durch viele Welten hindurch, dringt eine Stimme in sein Bewußtsein, die ihm vertraut war, und ihr Schmerz verwundet ihn noch mehr: Mein Hölder!
Sinclair steht neben der Kutsche, er hat die Fassung verloren, weint, schlägt die Hände vors Gesicht. Der WeißbinderHammelmann, der sich bereiterklärt hatte, den Irren nach Tübingen zu begleiten, stößt Sinclair an und bittet den Herrn Regierungsrat um die versprochene Vorauszahlung.
Die Kutsche fährt durch, nur die Pferde werden zweimal gewechselt.
Er schreit, der Schrei verfolgt ihn, holt ihn ein und füllt ihn aus.
Am 13. September 1806 wird er in die Tübinger Klinik eingeliefert.
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II
Die erste Widmung (Sinclair)
So will ich Sinclair nicht aus meiner Erzählung gehen lassen. Sein letzter Brief an Johanna entstellt das Bild. Man hat ihm Arroganz, geschäftsmäßige Kälte vorgeworfen. Ich bin sicher, Sinclair hat Angst gehabt, die Angelegenheit wuchs ihm über den Kopf. »Wie sehr es mich schmerzt, können Sie glauben, aber der Nothwendigkeit muß jedes Gefühl weichen, und in unsern Tagen erfährt man nur zu oft diesen Zwang.« Er verteidigt sich, indem er verallgemeinert. Wahrscheinlich hat Johanna ihn nicht verstanden. Aber mit diesem Satz gibt er sich zu erkennen: Viele Male hat er sich Zwängen widersetzt, hat gegen sie angekämpft und neue Zwänge geschaffen. Er, der inspirierte Täter, war dennoch ein Träumer. Mehr als sein geliebter Freund. Denn Hölderlin hatte viel früher als Sinclair erkannt, daß die Verhältnisse nicht günstig waren, das Volk nicht bereit zu einer Revolution. Beide litten sie unter diesem Widerspruch. Hölderlin konnte ihn immerhin aussprechen und projizierte ihnschließlich, bevor er zerbrach, in das unendliche, vieldeutige, doch nach einem einzigen Ziel suchende Gedicht. Dazu war Sinclair nicht fähig. Die besessene Täterschaft »verrückte« freilich auch ihn. Sein Landgraf, dem er, entgegen seinen politischen Vorstellungen, treu diente, hatte, als Sinclair in Stuttgart angeklagt war, bei der Heidelberger Juristischen Fakultät ein Gutachten über die Umtriebe seines Regierungsdirektors bestellt. Die Professoren befürworteten Sinclairs Entlassung »wegen der Unwahrscheinlichkeit daß ein Mann, den Amt und Geschäft mit der Zeit bekannt gemacht hätten, so ausschweifende Pläne, wie sie ihm zur Last gelegt werden, mit so eingeschränkten Mitteln auszuführen hoffen sollte«. Mit Logik war Sinclairs Vision nicht zu fassen. Er handelte unvernünftig. Ich weiß nicht, ob er sich darüber im klaren war, ob man sich, so entschlossen für die Tat lebend, überhaupt darüber im klaren sein kann. Darum sind Träumer und Täter sich nahe. Der Zwiespalt dieser großen Freundschaft wird nachträglich konstruiert, um Hölderlin aus der Umarmung des schmutzigen Zeitgeistes zu lösen. Hölderlin wußte es besser, er verstand die dialektische Spannung ihrer Freundschaft. In der Ode »An Eduard«, die Sinclair gewidmet und mit der ihre Freundschaft gemeint ist, vertraut er sich einer stürmischen Hoffnung an: »… doch öfters kämmt / Aus fernetönendem Gewölk die / Mahnende Flamme des Zeitengottes. // Es regt sein Sturm die Schwingen dir auf, dich ruft, / Dich nimmt der mächtge Vater hinauf; o nimm / Mich du, und trage deine leichte / Beute dem lächelnden Gott entgegen.«
Um den Verwirrten im Tübinger Turm hat sich Sinclair kaum gekümmert, ihn nie besucht. Ist es ihm anzurechnen, vorzuwerfen? Der Wahnsinn Hölderlins hatte ihn von seinem »Wahnsinn« geheilt. Mit der ihm aufgedrängten Vernunft mußte er allein bleiben. Die Gemeinsamkeit war nun aufgehoben. Dennoch war er, unter allen Freunden, »der Einzige«. Und so habe
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